Der Speiseplan

Wohin führen eigentlich all diese langen Gänge und verschiedenen Treppenaufgänge im Kolleg? Welche Summe an Kilometern kommt wohl so zusammen innerhalb einer Kollegszeit, während man dort geht, schreitet und sprintet? Und mit welchem Ziel?

Wie viele Kilometer hat man damals wohl während seiner Kollegszeit auf den langen Kollegsgängen zurückgelegt? 

Der Blick war – wahlweise müde, gelangweilt, fröhlich, starr, unruhig, hungrig, erwartungsvoll – meist auf die wechselnden Bodenbeläge gerichtet. Je nach Stockwerk präsentierte sich Beton, Holzparkett, Mamor. Der Klang der Schritte veränderte sich auf den langen Gängen jeweils eindrucksvoll. Zwischendurch grüßte man Lehrer, Präfekten, Mitschüler – meist nur mit einem routinierten Nicken. Am Abend und vor allem an Wochenenden begegnete man auch mal niemandem. Man schaute mal hinaus in die Innenhöfe, musste aufpassen, dass man nicht gegen eine der Stahltüren donnert, die gern mal durch freche Sextaner von der anderen Seite zugehalten wurden, und das mindestens zu Dritt. Die langen und teils verschachtelten Gänge und Treppenhäuser zwischen Neu- und Altbau machten es aber auch nicht schwer, einander – gewollt und weniger gewollt – aus dem Weg zu gehen.

Allein durch die habituell durchgeführten Prozessionen aus allen Flügeln des Kollegs zu den Speisesälen müssen sich für den Einzelnen über die Kollegsjahre hinweg hunderte von Kilometern Fußweg angesammelt haben. Frühstück, Mittagessen, Teepause, Abendessen. Wobei die „Teepause“ vor den Studienzeiten nicht so häufig als solche genutzt wurde, weil – im Gegensatz zu den anderen Mahlzeiten – diese als freiwillige Veranstaltung deklariert war.

Je näher man sich den Speisesälen näherte, um so stärker präsentierte sich der Geruch, manchmal Duft, der jeweils angebotenen Speisen. Der Schritt beschleunigte sich entsprechend auf der Zielgeraden oder man kämpfte mit einem Fluchtreflex. Besonders stark war dieses Duftspektakel, wenn man sich über die Kellergänge den Speisesälen näherte, um am Ende unterhalb der Küche mit Anlauf die ausgetretenen Stufen des Treppenhauses empor zu hechten.

Im Speisesaal angekommen, schritt man dann möglichst lässig zu seinem angestammten Platz an dem Tisch, den man sich zu Beginn des Schuljahres ausgesucht hatte und der meist mit engeren Freunden besetzt war. Jeder Tisch hatte eine bestimmte Tischordnung, die einer gewissen Hierarchie des Essens folgte. Wer belegt den besten Platz, wer darf sich als Erster bedienen, wer bekommt das beste Stück…? Im besten Fall wechselte – nach leidenschaftlicher Diskussion – dieses Procedere täglich. Ausnahmen bestätigten die selbst gemachten Regeln der Tischgemeinschaft.

Waren alle Tische vollständig, gab es ein kurzes Signal. Fuzzi beispielsweise klatschte zweimal schnell hintereinander mit seinen großen Händen laut und – trotz allgemeiner Unruhe – für alle vernehmlich und es verstummte daraufhin schlagartig die von den Stühlen aufgesprungene, hungrige Horde. Konditionierung. Es folgte das Tischgebet und nach dem gemeinsam gemurmelten ‚Amen‘ polterten die Stuhlbeine erneut und es ging endlich los. 

Zu den Tischmanieren, die häufig eine gewisse Eigendynamik entwickelten und teilweise das Einschreiten der Präfektur erforderlich machten, soll hier nicht näher eingegangen werden. Gaucho berichtete zum Thema „Food fight“ bereits hier eindrucksvoll davon.

Apropos: Fuzzi sorgte immer für Nachschub, wenn er annahm, dass aufgrund der „Schaufeldynamik“ seiner Zöglinge ein Nachschlag dringend erforderlich sei und meldete dies der Küche entsprechend nachdrücklich. Hungrig wollte er uns offensichtlich nicht entlassen und es war ihm anzusehen, wenn er sich Sorgen machte, dass wir nicht satt würden. Das Essen und die „Moral der Truppe“ – das Wechselspiel ist hinlänglich bekannt und birgt gerade und insbesondere bei hungrigen Halbwüchsigen hohes Konfliktpotential. Mit unabsehbaren Folgen für „Zucht und Ordnung“ innerhalb der Kollegsgemeinschaft.

Alle waren ihm dankbar. Nicht nur in dieser Hinsicht.

Ein weiteres Phänomen stellt die kreative Nomenklatur der verschiedenen Gerichte und Getränke dar, die sich im Laufe der Kollegsgeschichte nur unwesentlich verändert haben dürfte: „Fensterleder“ für Pfannkuchen, „Bremsklötze“ für Frikadellen, „Spüli“ für die Zitronenlimonade, „Wochenrückblick“ für den Eintopf am Samstag…um nur einige optische und geschmackliche Assoziationen zu nennen, die sich etabliert haben in das kollektive Sprachgedächnis der (Alt-) Kollegianer. Euch werden sicherlich noch weitere Synonyme einfallen.

Das Essen, das durch das Team der Großküche des Kollegs damals zubereitet wurde, war unter den damaligen Umständen wirklich in den allermeisten Fällen gut (bis sehr gut) und nur selten daneben. Natürlich gab es bestimmte Lieblingsgerichte, die zu besonders lebhaftem Agieren aller Beteiligten führte: Toast Hawai, Nudeln (in allen Variationen), Pizza…und vor allem: SCHNITZEL! 

Samstag oder Sonntags gab es abends immer die „Kalte Platte“, so dass viele sich – wenn möglich – entweder in den Abteilungsküchen eine eigene Mahlzeit (Spagehtti-Party, Toast-Wettessen) zubereiteten oder es sich im Fernsehzimmer des Restaurants im Dom-Hotel gemütlich machten, um Unmengen von Käsespätzle mit Soße zu verkosten. Dazu obligat: Weizenbier.

Wenn dort jüngere Kollegianer zugegen waren, denen solche Eskapaden laut Kollegsordnung nicht erlaubt waren, stand meist jemand am Fenster Schmiere und gab Alarm, falls der Schatten Fuzzis über den Domplatz schwebte.

„Fuzzi kommt!“

Ein plötzlich halb geleertes Fernsehzimmer im Domhotel, auf den Tischen verlassene, noch halbvolle, dampfende Spätzleteller, ein fast geleertes Weizenglas – dieser Anblick hätte Fuzzis Argwohn und seine unangemeldete Visite nur bestätigt. 

Dass der Zusammenhalt über die Klassenstufen und Abteilungen hinaus Bestand hatte, zeigte sich dann in dem Umstand, dass sich die älteren Mitkollegianer, denen der Ausgang erlaubt war – zuerst um die umgestürzten Stühle kümmerten, nachdem die „Kleinen“ das Etablissement fluchtartig verlassen hatten. Dann zogen sie sich möglichst beiläufig, quasi selbstlos, die verlassenen Teller und Gläser an ihren Platz, neben den eigenen Teller, das eigene Glas.

Und als Fuzzi dann das Eckzimmer erreicht hatte und mit ernster Miene die Szenerie mit schnellen Blicken abtastete, wurde die fraglos und betont lässig vorgetragene Erklärung, dass – natürlich, nun ja – der Appetit heute besonders groß sei, mit einem stummen Kopfschütteln quittiert. Er hatte die Situation sofort erfasst. Wenig überraschend.

Wie viele Kilometer hat man damals wohl während seiner Kollegszeit zurückgelegt – auf der Flucht aus dem Fernsehzimmer des Dom-Hotels, in die dunkle, kalte Nacht hinaus –  vor Fuzzi?

Autor

  • Lemmi

    Marc Bornée war von 1978 bis 1987 Kollegianer. Nach Wehrdienst und Medizinstudium ist er Anästhesist und Notarzt geworden, inzwischen Sozialmediziner. Die Musik hat ihn nie losgelassen, so semiprofessionalisiert er seine Passion weiterhin. "Lemmi" ist Ideengeber des Projekts der Kollegsgeschichten und gehört zum Redaktionsteam. Er ist verheiratet, ein Beagle.