Als Fremder gekommen – in Freundschaft gegangen

Selbst wenn man nicht freiwillig im Kolleg gelandet ist – die Erfahrungen können einen Menschen ein Leben lang (positiv) prägen. Doch es kommt auch darauf an, welche Persönlichkeit man selbst mitbringt – und wie man sich in das Leben im Internat einbringt.

An den trüben Februartag Anfang der 80er kann ich mich noch gut erinnern. Tag des Einzugs in ein 6er Zimmer, jedes Bett von mannshohen Holzwänden umgeben. Das hatte nichts von Harry Potter Hanni und Nanni Romantik. Es fühlte sich fremd an, mehr Straflager als Zukunft.
„Was soll’s, jetzt bist Du schonmal hier, dann lass mal gucken, was die Spacken hier so drauf haben“ So oder ähnlich bin ich am ersten Abend eingeschlafen.

Als Schüler habe ich im Jetzt gelebt, ohne viele Gedanken an eine mögliche Zukunft. Mit 15 wollte ich jedenfalls nicht ins Internat, die Entscheidung meiner Eltern war nicht meine Vorstellung von Schule.

Einerseits war ich in der Zeit zwischen 16 und 19 Jahren sehr empfänglich für alle möglichen Ideen und habe mich wie ein Schwamm gefühlt, der Wissen und Eindrücke aufsaugt. Gleichzeitig ist das hermetische, ja fast endemische Leben im Internat ein Brennglas und Katalysator gleichermaßen. Ich war stark genug, mir meine Unabhängigkeit zu bewahren, bis an den Rand des Rauswurfs und zeitweise auch darüber hinaus.

Ich habe Macht nie mit Autorität gleichgesetzt und nur letzteres akzeptiert. Mich haben – das weiß ich heute – einige Patres geprägt, die mich in meinem unbedingten Wunsch nach Erkenntnis unterstützt haben. Das Leben auf engstem Raum, auch emotional, ohne Ausweichen zu können, Konflikte lösen zu müssen und dabei keine Instanz wie ältere Geschwister oder eine Peer Group außerhalb des Internats zu haben, das hat mich geprägt.

Ironie, Rabulistik, manchmal Zynismus und immer der unbedingte Wille, mich in Diskussionen mit Argumenten durchzusetzen haben mich geformt. Einmal, während der Zeit der großen Friedensdemonstrationen 1983 und 1984, bin ich von St. Blasien nach Mutlangen zur Besetzung des Atomwaffenlagers getrampt, ein Erzieher wusste das und er hat mich machen lassen.

Wir haben viele Wochenenden in Kollegshütten im Wald verbracht, sind in Freiburg und Zürich gewesen oder auch nachts in den Dom eingestiegen – wir wollten uns ausprobieren und haben es einfach gemacht. Dieses Gefühl, alles schaffen zu können und nie daran zu zweifeln, dass Dinge gelingen werden – das habe ich in meinen Jahren in St. Blasien verinnerlicht. Anekdoten darüber kann ich zwar stundenlang erzählen, lachen können darüber allerdings nur die, die es miterlebt haben.

Was ich seinerzeit als gefängnisähnliche Enge empfunden habe, mit strengem Tagesablauf, sehe ich heute vielmehr als Rahmen, der mir Entwicklung ermöglicht hat. Prägende Ereignisse sind oft mit Personen verbunden. Pater Friedo Pflüger (leider weit vor seiner Zeit gestorben), der Erzieher Joachim Kreichelt, Thomas „Gaucho“ Gräf, Ralf Laier, Matthias Weber, Christian „Grieche“ Kuhna, mein Deutschlehrer Meinrad Emmerich (auch er ist viel zu früh gestorben) sind für mich prägende Menschen, zum Teil bin ich bis heute mit ihnen verbunden.

In unserer peer group hatten wir ein unausgesprochenes Selbstverständnis und eine Verbundenheit, die ich nicht durch Anekdoten erhellen will, die mich rückblickend immer wieder mit tiefem Dank erfüllt. Der Erzieher Joachim Kreichelt mit seinem VW Variant 1600 zum Beispiel war von nie versiegender Hoffnung, dass ich meinen Weg gehen kann und hat mir sicherlich mehr verziehen als ich damals wahrgenommen habe. Einmal hat er mich selbst nach Freiburg aufs Volksfest gefahren, um mir einen Abend Auszeit zu geben, hat mit mir jede noch so abgefahrene Diskussion in jeder Lautstärke geführt und ausgehalten. Er hat mir einen Feuerschamanen (wirklich!) vermittelt, der im Menzenschwander Wald ein riesiges Feuer mit mir als 17 jährigen geschürt hat. Pater Frido Pflüger SJ hat unseren ganzen Jahrgang geprägt wie kein zweiter. Seine Gelassenheit, sein großes Herz und sein unbedingter Wille, uns zu verstehen hat mich tatsächlich schon in meiner Schulzeit beeindruckt. Erlebnisse mit ihm gibt es viele, die Exerzitien nach Mannheim oder Glashütten habe ich aber noch heute sehr deutlich vor mir.

Auch wenn Schule und Internat viel Wert darauf legen, Wissen zu vermitteln, so sind es doch ganz andere Dinge, die wir als Schüler am Kolleg und insbesondere im Internat gelernt haben. Verwechsele niemals Macht mit Autorität, der Mensch steht IMMER im Mittelpunkt, Empathie ist wichtiger als alles andere, Führung hat nichts mit managen zu tun. Menschen sollten immer das tun dürfen, was sie am besten können und zugleich am liebsten machen. Wir können die Welt zu einem besseren Ort machen.

St. Blasien war für mich ein Ort der Herausforderungen, die für mich zeitweise schier unüberwindbar schienen. Für mich und für viele um mich herum hat es bedeutet zu erkennen, wenn ich im Internat nicht scheitere, dann muss ich keine Angst haben, irgendwo anders scheitern zu können.

Der Einsatz, sein Kind an ein Internat zu geben, ist hoch. Denn das Risiko zu scheitern, ist im Internatsleben inbegriffen und der Preis ist dann so hoch, dass er ebenfalls ein Leben prägt. Im Internat reift und wächst ein Kind schneller, wer die richtige peer group, die richtigen Abbiegepunkte erwischt, der wird sein Leben davon geprägt sein und es mögen. Ich habe meinen Söhnen oftmals gesagt, wenn sie mich zum Internat gefragt haben: „Ihr dürft hingehen, wenn ihr es selber bezahlen könnt.“

Nach den Sommerferien haben wir als Rückkehrer immer gewusst, dass es sich für die Neuen in den ersten zwei Wochen entscheidet, ob sie es packen oder nicht. Jugendliche sind emotional knallhart und unerbittlich im Herausfinden von Schwächen, die dann genüsslich getestet werden. Ich kann im Internat nicht entfliehen, selbst wenn ich es will und es dringend nötig wäre und die Nischen sind alle besetzt, wenn ich hinkomme.

Beruflich hat mir die Prägung durch das Internat geholfen. Es ist dieses Gefühl, alles erreichen zu können, unbedingtes Selbstvertrauen und angstfrei zu sein bei Entscheidungen. Viele, wirklich viele Mitschüler sind ins Ausland gegangen, haben in Amerika, England, Polen oder in Asien gearbeitet – viel mehr als an meiner „alten“ Schule in meiner Heimatstadt Bonn. Das zeigt doch, an den eigenen Erfolg und das Sendungsbewusstsein zu glauben, ist ein echter Startvorteil, den viele in St. Blasien hatten und noch haben (auf Kosten des Scheiterns einiger aus meinem Abijahrgang)

Mein Lebensmotto trug ich damals schon in mir, wusste es nur nicht. Das ist heute anders. Do what you can, use what you have and start where you are.

(Foto: Wolfgang Stahl)

Autor

  • Pogo

    Hartmut kam in der 9. Klasse ans Kolleg und machte 1985 Abitur. Er ist mit Herz und Seele Kölner und arbeitet als freier Berater in der Öffentlichkeitsarbeit und gehört dem Redaktionsteam der Kollegsgeschichten an.