Gäbe es das Kolleg nicht – wir müssten es gründen

Ein Kollegianer der ersten Stunde erinnert sich an den Neubeginn: Die ersten Jahre waren bestimmt durch pädagogische Regeln aus der Vorkriegszeit, Hunger und eine von Männern geprägte Erziehung. Aber er erhielt auch lebensbestimmende Angebote und Wegweisungen.

Treppenhaus

Am 6. Februar 1944 begleitete ich, gerade 10-jährig, meinen Vater bei einer „Patrouille“ der Luftaufklärungsstation Höchenschwand. Wir spurten in tiefem Neuschnee von Häusern hinauf zum militärischen Beobachtungsturm. Rechts unten in einem verschneiten Talkessel wies mein Vater mit seinem Skistock – ich meine, dies geschah gestern – auf die grosse Kuppel eines Domes mit vergoldeter Kugel auf der Spitze. Das Dach des nach Osten angegliederten Gebäudes war mit dem Rotkreuz-Symbol als Kriegslazarett gekennzeichnet. Mein Vater sagte, fast im Vorbeigehen, jedoch sehr bestimmt: „Wenn dieser schreckliche Krieg endlich vorbei sein wird, wirst Du dort unten in dem ehemaligen Jesuitenkolleg Sankt Blasien als Schüler des Internats deine Gymnasialzeit verbringen“.

Aus dieser mich sehr überraschenden Äußerung meines Vaters über meine schulische Zukunft entwickelte sich nicht, wie eigentlich zu erwarten, ein Gespräch über dieses Internat, die Schule und den Orden der Jesuiten, sondern ich fragte meinen Vater, wann er denn glaube, dass dieser Krieg zu Ende sei? Ausserdem wollte ich wissen, was die sich Anfang 1944 abzeichnende Niederlage des Krieges für Deutschland und seine Bevölkerung bedeuten wird. Seine Antwort ließ mich nachdenklich und tief beeindruckt zurück: „Ich weiss nicht, antwortete er, wann dieser schreckliche Krieg zu Ende sein wird – ich hoffe bald. Wenn wir diesen Krieg verlieren, wird dies für unser Land, die gesamte Bevölkerung und unsere Familie sehr schlimm sein – schrecklicher wäre jedoch, würden wir diesen Krieg gewinnen“.

In Konsequenz dieses elterlichen Planes spazierte ich 1944 mit Beginn der örtlichen Realschule wöchentlich zwei mal zu dem mit meinem Vater befreundeten Kaplan ins Pfarrhaus zur Lateinstunde – für den Tag X: „Gallus cantat, multi galli cantant“ etc. Belohnt wurde ich am Ende des Unterrichtes mit einer dick mit Butter und Honig belegten Scheibe Bauernbrot, wobei ich erstmals in meinem jungen Leben den Abdruck meiner Zähne im Aufstrich wahrnahm.

Nach einem Jahr im humanistischen Suso-Gymnasium Konstanz, als Quintaner gleichsam in Warteposition für Sankt Blasien, landete ich am 3. September 1946 nach 10-stündiger Bahnfahrt von Singen über Donaueschingen in Seebrugg am Schluchsee. Dort wurden wir „Kollegianer“ in einen von einem Holzgaskocher angetriebenen Lastwagen zusammengepfercht über Häusern in das im tiefen Albtal gelegene Kolleg Sankt Blasien verfrachtet. Hier also sollte ich, wie mir 17 Monate zuvor „verheissen“, meine humanistische Bildung und jesuitische Erziehung erhalten.

Ankunft 1946 – erste Eindrücke

Die ersten Wochen im Kolleg war ich von unerträglichem Heimweh nach meinen Eltern, den sechs Geschwistern und ehemaligen Schulfreunden geplagt. Von Fluchtgedanken besetzt, empfand ich die barock geschwungenen Eisengitter, welche die Fenster des Vierzig – “Männer“ – Schlafsaales schmückten, als markantes Zeichen eines großen Kindergefängnisses. Der allabendliche Blick durch die Stäbe nach Osten hinauf an den Rand des Talkessel – später von uns „Spucknapf des Poseidons“ genannt – nach Häusern signalisierte: Kein Entkommen!

Der Tagesablauf war klar strukturiert; die pädagogischen Regeln lebten den Geist der Vorkriegszeit: Stella matutina Feldkirch / St. Blasien – . Wie sollte es auch anders sein nach der 13 Jahre währenden Schreckensherrschaft des Naziregimes? Hinzu kam, dass wir Spätankömmlinge von den im Mai 1946 Erstberufenen wie Spätzünder oder Kollegianer zweiter Klasse behandelt wurden: Kein Gespräch, keine Zuwahl bei der Aufstellung einer Fußball-Volley- oder Handballmannschaft, nicht einmal Reservebank.

Nach drei Wochen schmerzlichem Durchhalten geschah das nicht mehr Erwartete:
Einer der „Erstberufenen“, sprach mich auf einem der Kollonnen-Spaziergänge auf dem Weg zum Albtalstausee an. Der reifere, ältere Untertertianer nahm danach den Quartaner gleichsam in seine Obhut. Wir sind Freunde geworden und blieben es bis heute. Seine pfälzische Frohnatur war für meine alemannische Seele Labsal und Geleit. Ich konnte die postalisch nach Hause gesandten Hilferufe, mich doch endlich aus diesem Kindergefängnis zu befreien, einstellen. Später berichtete mir meine Mutter, dass sie beim ersten Besuch im Kolleg einen leeren Koffer für die Wäsche und Schulutensilien – ohne Wissen des Vaters – mitführte, um mich zu befreien. Sie fuhr mit leerem Koffer zurück. Mein Vater hatte sich durchgesetzt.

Nach und nach war ich nun in der Lage zu begreifen, wie das Leben in Gemeinschaft rund um die Uhr gelebt werden kann, integriert in Schule und Studium.

Schule 1946 – 1953

In den ersten Nachkriegsjahren waren auf Initiative der Kollegsleitung hochkarätige Studienräte und – Direktoren mit ihren Familien in Sankt Blasien „gestrandet“ – z. T. im Zuge der Entnazifizierung oder zur Ausheilung vielfältiger Kriegsleiden. Zahlreiche Lehrer des Ordens waren an den unterschiedlichen Fronten gefallen und mussten durch „weltliche“ Lehrer ersetzt werden.

Von den uns lehrenden Pädagogen haben mich – nicht unmittelbar natürlich, sondern im Rückblick – am tiefsten beeindruckt: Pater Otto Faller SJ, gleichzeitig Rektor des Kollegs, Pater Adamek SJ und Pater Heitlinger SJ, Lehrer in Griechisch und Latein. Sehr beeindruckt und geprägt hat mich auch der Deutsch – und Geschichtsunterricht von Pater Wiedemann SJ, später von Herrn Mattusch. Pater Wiedemann hat uns nicht nur die historische Entwicklung des Islam, sondern visionär dessen zukünftige weltpolitische Machtentfaltung beschrieben. Ausserdem hat er, selbst ein grosser Redner und Prediger (im kalten Dom) die Geheimnisse und die Bedeutung empathischer Rhetorik und klarer Didaktik vermittelt. In welchen sich aus Trümmern erhebenden Schulen unseres Landes gab es dies in jener Zeit? Erst später in meinem beruflichen Leben wurde mir bewusst, wieviel ich diesen exzellenten Pädagogen zu danken habe.

Hierbei entdeckte ich natürlich auch Lücken: Wohl zu zeitnah (1946-1953) wurden zwei ausserordentlich wichtige Themen nicht mit uns besprochen und kritisch diskutiert:

Der gerade besiegte Nationalsozialismus in seiner Entstehung aus der Weimarer Republik und dessen rassistische, antisemitische Ideologie, welche parallel zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in den Holocaust geführt hatte. Diese Tabuisierung entsprach der offiziellen Politik der „Adenauer-Ära“. Allerdings wurden wir durch authentische Berichte über die Verfolgung des Jesuitenordens, die Schauprozesse gegen Mitglieder des deutschen Widerstandes, u.a. Kreisauer Kreis, Weisse Rose, und andere Widerstandskämpfer, sowie über die Hinrichtung von Pater Delp SJ informiert. Täglich gingen wir auf dem Weg in die Morgenmesse an der an Pater Delp erinnernden Gedenktafel vorbei. Im Kunstunterricht erfuhren wir nichts über die Entwicklung der damals schon klassischen Moderne, – Impressionismus und Expressionismus – im Dritten Reich als entartet verhöhnt, und die Entwicklung der deutschen und europäischen, zeitgenössischen Kunst. Wir erlebten jedoch, wiederum durch Pater Wiedemann, grossartige Lehrstunden über die deutsche und französische Romanik und Gotik.

Internat 1946 – 1949

Die ersten Jahre waren bestimmt durch Hunger und eine von Männern für männliche Jugendliche (in den hohen Schulklassen befanden sich einige Kriegsteilnehmer) geprägte Erziehung. Diese basierte auf der in der Stella Matutina in Feldkirch praktizierte und in den Vorkriegsjahren nach Sankt Blasien übernommenen ignatianischen Pädagogik und Spiritualität. Aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten kommend waren wir alle gleich hungrig und gleich arm. In jenen Jahren des Um- und Aufbruches täglich mehrere hundert Schüler, Lehrer, Erzieher und Angestellte zu ernähren, war eine heute nicht mehr vorstellbare ökonomische und logistische Herausforderung. Einzelne Speisen erhielten aufgrund ihres Geschmacks, Aussehens und ihrer Verdauung ihre je eigenen Namen, die in der Erinnerung uns heute beschämen. Bekam ein „Mitbruder“ von zu Hause ein ( Fress-) Paket, so wurde dieses unter den Nächsten geteilt. Wir lebten so einen Aspekt der Katholischen Soziallehre in praxi. Höhepunkt jeder Woche, gleichsam ein kulinarisches Highlight, waren die an jedem Sonntagabend kredenzten sog. „Papstwecken“ mit Apfelmuskompott. Diese waren allwöchentlich dank der engen Beziehungen von Rektor Otto Faller SJ, ehemals enger Berater von Papst Pius XII, per Lastwagen mit Vatikan-Kennzeichen von Rom nach Sankt Blasien transportiert worden.

Zugeordnet einer grossen Abteilung von etwa 60 Kollegianern in Studier- und Schlafsaal tat ich mich in den ersten Jahren schwer, trotz der hervorragenden Präfekten Pater Fank, Pater Nitsche SJ und Pater Sommer SJ, dem pädagogischen Konzept zu folgen. In den so sorgfältig und professionell ausgestellten Internatszeugnissen wurde ich zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, anstelle persönlicher Freundschaften mich mehr in der Gemeinschaft einzubringen.

Die Gestaltung der „Freizeit“ war weitgehend vorgegeben: Spaziergang in Gruppe, bis zur Ortsgrenze in Dreierreihe. Die Zuordnung des Begleiters war an einer Stecktafel ablesbar. Auch die Wahl der Sportart war einem nicht überlassen. Die Unterscheidung zwischen ästhetischem (Volleyball) und unästhetischem, rauem Sport (z.B. Fussball) war für viele nicht nachvollziehbar, ebensowenig wie die Tabuisierung jeder Körperlichkeit. Diese führte einmal zu einer ebenso grotesken wie heiteren Situation: Der so sensible, liebenswürdige, junge ungarische Präfekt Pater Laszlo Balley SJ hatte uns beim Duschen in einem grossen Gemeinschaftsduschraum zu beaufsichtigen. Zum Duschen gehörte die Einhaltung des Silencium religiosum. Natürlich durchbrachen wir in unserer Freude bei diesem so seltenen Ereignis dieses Schweigegebot, worauf Pater Balley in den Duschraum hineinrief: „Wenn Ihr nicht gleich werdet sein still, werde ich Euch stillen“.

Eine weitere Anekdote zum Thema „rauer, unästhetischer Sport“: Die Kollegsleitung verbot eines Tages „Fussball“. Die Schuhe würden beschädigt. Wir spielten vergnügt barfuß, bis der Vater eines Mitschülers aus der Stadt des damaligen Deutschen Meisters – Kaiserslautern! – einen mit „Schlappen“ beladenen Lastwagen vorfahren ließ. Ja, es war der Sport in seiner Vielfalt – Sommer wie Winter – mit kurzen Wegen, eingebettet in einen klar strukturierten Tag, der alle jugendlichen Frustrationen auffing und mir mich prägende Impulse vermittelte: Teamfähigkeit, Rücksichtnahme, Übernahme von Verantwortung, leistungsorientiertes Training, Disziplin, Konzentration, Fairness, Umgang mit Niederlagen. Zur Tischtennismeisterschaft der Stadt Sankt Blasien gelang es mir, an den für die Kollegsmannschaft Verantwortlichen vorbei, ein Mädchen (!) im Team zu platzieren. Mit diesem fremden Wesen, einer meiner 5 Schwestern, errangen wir die Stadtmeisterschaft (1952) im „gemischten“ Doppel.

Das nicht nur mein Leben im Kolleg sondern auch mein späteres Leben am tiefsten erschütternde und beeinflussende Ereignis war der Unfalltod meines Vaters am 6. Februar 1949 – fünf Jahre nach unserem gemeinsamen Blick auf die Kuppel des Domes. Der aus Radolfzell/ Singen zum Feldberg fahrende Autobus war bei Döggingen aus einer vereisten Kurve in einen Abhang gestürzt. Ich wartete vergebens oben auf dem Feldberg auf die Ankunft des Autobus. Meine Mutter war mit 44 Jahren Witwe, 7 Kinder waren ohne Vater.

Mir unvergessen, da mich tief berührend, bleiben nach diesem für mich katastrophalen Ereignis die Gespräche mit Pater Fank SJ, dem damaligen Generalpräfekten des Kollegs, und mit Pater Sommer SJ, meinem Abteilungspräfekten, wie auch die Aufnahme durch alle Schüler des Kollegs nach meiner Rückkehr ins Kolleg. Ich spürte erstmals die Kraft, die von Gemeinschaft ausgeht. Das „Kolleg“ war von da an Heimat, Mittelpunkt meines Lebens geworden. Mir war bewusst geworden, dass nur dank des hohen Einsatzes meiner Mutter und meiner ältesten Schwester mein Verbleiben im Kolleg, gleichsam als Vermächtnis meines toten Vaters, möglich wurde. Im Kreis meiner sechs Geschwister war ich hoch privilegiert, weiterhin in dieser exzellenten Schule und in diesem mich geistig fordernden und prägenden Internat bis zum Abitur 1953 leben zu dürfen.

Viele meiner Mitschüler hatten schon während des letzten Kollegjahres ein klares Berufsziel – einer, hochbegabt und politisch sehr interessiert, wollte Bundeskanzler werden. Ich war ein Suchender, nur wissend, dass ich in meinem zukünftigen Beruf mit und für Menschen wirken wollte. Hierauf fühlte ich mich durch die vom Geist des Ignatius geprägte Erziehung, die jedem Tag gegebene Struktur und die Möglichkeit, Beziehung zu Menschen (rund um die Uhr) zu leben, vorbereitet. Aus einer dieser freundschaftlichen Beziehungen ergab sich eine mich in mehrfacher Hinsicht überraschende Anfrage eines Mitabiturienten, die dem Suchenden eine grosse Chance auf seinem weiteren Weg auftat: Begleitung zum Studium Generale – Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte – als „Laicus“ an die Päpstliche Universität Gregoriana nach Rom. Zwei „Kollegianer“ reisten 1953 von der Jesuitenschule Sankt Blasien zur Jesuiten- Hochschule Rom. In Rom wohnten wir im Pilgerheim „Casa Palotti“ in der Via dei Pettinari 64, nahe dem Ponte Sisto. Umgebaut zum „Hotel Ponte Sisto“ erlebe ich von diesem Haus aus jährlich „eine Woche Rom“.

Ein echter “Leader”

Eine weitere aus dem Internat heraus entstandene Beziehung verdient m. E. Erwähnung. Ein vier Jahre älterer, stürmischer, sportlicher Kollegianer, Heiner Geißler, leitete unsere Jugendgruppe. Nach seinem glänzend bestandenen Abitur führte er 1949 per Rad (ohne Gangschaltung) zehn (!) Kollegianer – noch nicht ganz „mittelgereift“ – von Sankt Blasien nach Oberstdorf und vom Zeltlager aus hinauf auf die „Mädelegabel“ und über den Heilbronnerweg auf das „Hohe Licht“ (nomen est omen). Am Ende dieses wunderbaren Abenteuers trennten sich in Bad Waldsee unsere Wege: Heiner fuhr nach Neuhausen in das Noviziat der Jesuiten, wir nach Hause in die Ferien. 37 Jahre später bestellte jener Leader, nun als zuständiger Gesundheitsminister von Rheinland Pfalz meinen damaligen Chef, Direktor der Universitätsfrauenklinik Mainz, zum Rapport in sein Ministerium. Dieser bat mich, ihn zu begleiten. Die zuvor aufgrund der Thematik angespannte Situation war gelöst, als ich, zur großen Verblüffung meines Chefs, dem Herrn Minister mithilfe des Stellaner-Du, klarmachte, dass er von der zur Diskussion stehenden Materie doch zu wenig verstehe.

Heiner war ein großer Geist und echter Leader. Zuletzt trafen wir ihn mit seiner Familie in den Hochsavoyer Alpen, in Meribel, wo er im Ortszentrum bei Schneegestöber in ein Verkehrschaos geraten war. Er sprang aus seinem Auto, machte sich zur Verkehrsinsel und dirigierte den Autoverkehr. Danach feierten die Familien gemeinsam auf dem zugefrorenen Lac de Tueda in das Neue Jahr.

Jede Rückschau führt zu unterschiedlichen Bewertungen

„Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, Leben muss man vorwärts“ –
S. Kierkegaard

Ich kann, 67 Jahre nach meinem Schul – und Internatsabschluss, dankbar sagen, dass ich durch hervorragende Lehrer nicht nur ausgebildet wurde, sondern auch Bildung erfahren habe. Spätestens nach der „mittleren Reife“ (was für ein Begriff !?) habe ich mich mit „meiner“ Schule und dem Internat voll identifiziert – was bis heute gilt.

Im Internat erhielt ich durch kluge pädagogische Führung mein Leben bestimmende Angebote und Wegweisungen. Während des Studiums,
vor allem aber in meinem Leben als Arzt und Vater erlebte ich den hohen Wert von Phasen der Stille durch Schweigen, die Hilfe durch Struktur des Tages, Pünktlichkeit und Disziplin im Handeln. Im Verbund der Gemeinschaft wurde mir nach und nach bewusst, dass unser Leben stets mit Blick auf den Nächsten, in Verantwortung gelebt werden sollte. Und das für mein berufliches Leben Wichtigste erhielt ich aus der ignatianisch- jesuitischen Spiritualität. Aus dem mir vermittelten christlichen Menschenbild hatte ich einen ethischen Kompass erhalten, hatte gelernt, gesellschafts- und gesundheitspolitische Parolen und Festlegungen (Kompromisse) zu hinterfragen und gegebenenfalls auch Verantwortung zu übernehmen.

Durch meine Berufswahl stand ich 45 Jahre in der geistigen Auseinandersetzung mit der Katholischen Sexuallehre bzw. deren Verbotsmoral. Ich muss vermuten, dass ich ohne die o.g. Prägung, in der Auseinandersetzung mit„Humanae Vitae“, der Zölibats – „Lehre“, der Stellung der Frau in der Kirche, dem sexuellen Kindesmissbrauch durch Priester und Ordensleute und dessen Vertuschung zum Schutz der Täter etc., „meine“ Kirche verlassen hätte.

Gerade mit Blick auf diese Irrwege „unserer“ Kirche, wünschte ich, dass im pädagogischen Konzept des Internates schon früher die Tabuisierung menschlicher Sexualität durchbrochen und uns die Bedeutung der Beziehung zur Frau für das Bonum Humanum dargelegt worden wäre. Diesbezüglich erlebten wir nur zaghafte erste pädagogische Gehversuche: „Pilger“-Zug im Heiligen Jahr 1950 nach Rom, gemeinsam mit Mädchen der Schule und des Internates Kloster Wald bei Sigmaringen, in getrennten Wagons, versteht sich, und ein gut organisierter Tanzkurs in Freiburg mit Mädchen des Ursulinen-Gymnasiums sowie zwei Skirennen mit den Jungen und Mädchen vom Birklehof in Hinterzarten, einem Ableger der Internatsschule Salem.

Was für ein Aufbruch! 1969 wird das erste Mädchen in die Schule aufgenommen und am 1. August 1989 wird ein Internat für Mädchen eingerichtet. Hier empfindet der Autor die Ungnade der frühen Geburt. Welch ein Ereignis – im Oktober 2019 durfte ich, 66 Jahre nach Verlassen des Kollegs, erleben, wie der Rektor des Kollegs, Pater Klaus Mertes SJ, vor mehr als 1000 Altschülern die hochverdiente General – „Präfektin“ (!) und Leiterin des neu eröffneten Mädcheninternates (in einem traditionsreichen Jungeninternat), Frau Marlies Woerz, nach 38 Jahren in den Ruhestand verabschiedete. An Schüler und Altschüler gewandt sagte Pater Mertes in jener Abschiedsrede: „ Sie brauchen männliche Vorbilder, aber auch das Vorbild erwachsener Frauen, um einen positiven Begriff von Weiblichkeit ins Leben mitnehmen zu können“ (K.Mertes, Kollegbrief 2019, S. 167 ). Mit einem weiteren Statement von Pater Mertes SJ, ebenfalls an jenem Festabend in unser Logbuch gesprochen, will ich meine „Reflexionen“ schliessen:

“Erinnerung hat nicht einfach nur den Sinn, zusammen zu sein und die Vergangenheit zu verherrlichen, sondern die Erinnerung hat etwas zu tun mit Prozessen in der Gegenwart. Und wir sind als Kolleg sehr daran interessiert, dass die Erinnerung auch ein Akt der Reflexion ist darauf, was es für uns heute bedeutet, was wir am Kolleg erfahren haben“.

Gäbe es das Kolleg Sankt Blasien nicht, wir müssten es noch heute gründen!

Autor

  • Hermann Hepp

    Hermann Rudolf Hepp (* 27. Januar 1934 in Singen) ist ein deutscher Gynäkologe und Geburtshelfer. Er wurde 1934 in Konstanz geboren und legte 1953 sein Abitur am Kolleg ab. Hepp war von 1992 bis 1994 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und ist seit 1996 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer.