Die geheime Dom-Mission

Eine Zeit lang konnte man vom Franzosenbau aus in den Dom einsteigen. Nicht ganz ungefährlich, auf keinen Fall zur Nachahmung empfohlen, aber ein spannendes und lustiges Abenteuer – wenn man nicht feststeckt oder vom Fuzzi entdeckt wurde.

Ich kam zur Obersekunda ans Kolleg. Die neunten und zehnten Klassen wohnten damals im Franzosenbau. Dort gab es an der westlichen Seite des Gebäudes ein Treppenhaus, das die vier Stockwerke verband und in dem sich die Raucherzonen befanden. Ja, wir haben damals geraucht, also: gefühlt mindestens die Hälfte der älteren Schüler und auch nicht wenige des pädagogischen Personals. Unvorstellbar heute.

Unser Präfekt hieß Herr Gaus, und wenn der nicht da war, übernahm der Fuzzi das Lichtausmachen. „Heia-time“ dröhnte sein fröhlicher Bass dann durch den langen Flur. „Licht aus. Schlaft’s gut.“ Man tat besser, wie einem geheißen. Der Fuzzi war stellvertretender Internatsleiter und hieß mit vollem Namen Pater Winfried Schüßler SJ. Er hatte mehr Spitznamen und mehr Street Credibility als jeder andere Pater. Außerdem war er doppelt so groß wie ein normaler Pater, hatte Arme wie Telegrafenmasten, Hände groß wie Bratpfannen und besaß noch eine Reihe anderer Eigenschaften, die ihn fast übermenschlich erscheinen ließen. So beherrschte er zum Beispiel die Kunst der Multilokalität, d.h. er konnte gleichzeitig eine Truppe Sextaner zusammenpfeifen, die im Treppenhaus das Geländer herunter rutschten und im selben Moment ein paar Pimpfe beim Rauchen hinten an der Post erwischen. Man hatte das Gefühl, er war überall und sah alles. Einer seiner Spitznamen lautet deshalb auch: ”Das Auge Gottes“. Jeder, der nur für drei Pfenning Verstand besaß, versuchte auf jeden Fall zu vermeiden, seinen Argwohn zu erregen, wenn er irgendwie über die Stränge geschlagen hatte. Ein bißchen wie das Auge Saurons in Mordor: Besser nicht ins Blickfeld geraten.

Zum Beispiel führte man im Speisesaal den beliebten Trick vor, ein volles Saftglas blitzschnell so umzudrehen und auf dem Wachstischtuch abzusetzen, dass nichts herauslief, so dass der Küchendienst es später nicht entfernen konnte, ohne eine Riesensauerei zu machen. Wenn dann auf einmal das Lachen in der Runde erstarb und ein riesiger Schatten sich von hinten heranschob und die Sonne verdunkelte, dann war das der Fuzzi. Er musste gar nichts sagen, denn man rannte noch im selben Augenblick unter dem Murmeln von Entschuldigungen – was denn blos in einen gefahren ist, so eine Unbedachtheit, menschmenschmensch, wirdauchniewiedervorkommen – los und holte flugs Putzlumpen und Eimer und sorgte dafür, das Missgeschick schnell wieder aus der Welt zu räumen. Der Fuzzi änderte dann meistens seinen Kurs und sah davon ab, einem den Kopf vom Rumpf zu trennen und nachdem er, die Jacke um die Schultern geworfen wie Batman sein Cape, davon geglitten war, um irgendwo anders im Kolleg den Respekt vor Recht und Ordnung wieder herzustellen, merkte man erst, dass einem noch immer die Finger zitterten.

Oder, ebenfalls Speisesaal, man war gerade mitten in einem „Food Fight“ und beschoss den Nachbartisch mit Rosenkohl, wobei man den Löffel als Katapult benutzte. Und wenn sich ein Geschoß auch nur in die Nähe des INRI an der Wand des Speisesalls verirrte … same procedure: Schatten, Schweigen, Kopf einziehen, Sauerei beseitigen und für den Rest des Schuljahrs den Ball flach halten.

Nach dem Lichtausmachen schlichen wir manchmal in die Raucherecke im Treppenhaus vom Franzosenbau und qualmten. Und natürlich erwischte uns der Fuzzi, wenn er gerade Patrouille flog, aber wenn er gut drauf war, setzte er sich auf eine Zigarette dazu, quatschte ein bisschen mit uns und scheuchte uns anschließend ins Bett. Die Geschichte davon machte dann am nächsten Tag die Runde, und die Teilnehmenden sonnten sich eine kurze Zeit lang in der Bewunderung, dass sie noch ihren Kopf auf dem Hals trugen.

Auf der obersten Etage des Treppenhauses war eine Luke zum Dachboden. Und von dort aus konnte man ein Loch in der Außenmauer erreichen und dahinter den Spalt zwischen den Außenmauern des Franzosenbaus und des angrenzenden Doms. An den Außenfassaden, zum Domplatz und zum Innenhof hin, war der Spalt zugemauert und oben überdacht und offensichtlich wusste niemand, dass man von dort aus durch ein gegenüberliegendes Loch in der Mauer in den Dom einsteigen konnte. Das war nicht ganz ungefährlich, der Spalt war bestimmt einen dreiviertel Meter breit und das Loch in der Dommauer lag auch nicht direkt gegenüber. Da man etwa auf Höhe des vierten Stocks rumkraxelte, bedeutete Abrutschen einen Fall aus mindestens zehn Metern Höhe. Jedenfalls war es ein großes Abenteuer, in den Dom einzusteigen und das Wissen über den geheimen Zugang wurde unter nur dem Siegel strengster Verschwiegenheit und hinter vorgehaltener Hand weitergegegeben.

Wir verabredeten uns um elf auf der obersten Etage des Treppenhauses unter der Bodenluke, die damals eben noch unverschlossen war. Dunkle Kleidung, Taschenlampen – dass wir uns nicht das Gesicht noch schwarz angemalt hatten, fehlte eigentlich noch. Matz war dabei, der Grieche, Pogo, Joe Pfeil und der Schobinger sowie meine Wenigkeit, und so stiegen wir schnell durch die Luke und schlossen sie dann von oben. Nun musste man schon in unseren Betten suchen, um unser Fehlen zu entdecken. Wobei – beim Fuzzi konnte man nie wissen. Nach einigem Umhertapsen auf dem staubigen Dachboden – der Franzosenbau wurde irgendwann im 18. jahrhundert gebaut und seitdem war auch keine Putzfrau mehr hier gewesen – fanden wir das Loch in der Außenmauer und mussten von dort den Abgrund zwischen den beiden Gebäuden überwinden – „stell dich nicht so an, du Schisser“ – „selber Schisser“ – „hast du mal gesehen, wie scheiß hoch das hier ist?“ – und durch die entsprechende Öffnung in der Dommauer kraxeln. Innerhalb des Doms ging es zwischen Dach und Gebälk etwa zehn Meter schräg nach oben. Es war staubig und stockdunkel. Etwa auf halber Strecke geriet unsere kleine Expedition ins Stocken. Ich weiß nicht mehr, wer vorweg stieg, ich glaube es war der Schobinger. „Hier geht es über einen Balken“, gab er in seinem ruhigen Schwyzerdütsch nach hinten durch, „das könnte vielleicht eng werden.“

Es wurde eng. Beängstigend eng. Pogo war damals nicht der schlankste. Und natürlich steckte er fest, als er den Balken überwinden wollte. Und natürlich kam er nicht mehr vor und zurück. Wir brachen in leichte Panik aus. Eine Rettungsaktion mit Feuerwehr, die am besten noch das Dach aufsägen musste – das war nicht wünschenswert. Und das anschließende Verhör durch den Fuzzi galt es auch nach Möglichkeit zu vermeiden. Einfach hier bleiben und auf das Ende warten, wurde kurz erwogen, war aber keine echte Option. Also zogen und schoben wir von vorne und hinten – „versuch mal, ganz auszuatmen“ – „tolle Idee, KLUGSCHEISSER“ – aber es funktionierte und irgendwann hatten wir Pogo befreit. Mit dem zerissenen T-Shirt und den Schrammen am Bauch würde er leben können.

Wir streiften durch den Dom wie eine Gruppe Luftschnapper, die tagsüber busseweise auf dem Parkplatz abgeladen wurden. Wir befummelten die Orgel und machten einen Abstecher in die Sakristei, wo jeder einen „wänzägän Schlock“ vom Messwein aus dem Tabernakel nahm und wir Pogo daran hinderten, mit dem Taschenmesser einen Schmuckstein aus dem Messkelch zu hebeln. Das würde nur Ärger geben.

Zu der Zeit wurde am Dom gebaut. Wenn ich genau drüber nachdenke, wurde am Dom eigentlich permanent gebaut. Jedenfalls stand damals direkt hinter dem Altar ein Hygrometer, mit dem die Jungs vom Bauamt, Denkmalschutzbehörde, Archäologieministerium oder wer auch immer die Luftfeuchtigkeit maßen. Wegen der sensiblen Deckengemälde. Oder um zu kontrollieren, wieviel Feuchtigkeit der Fake-Marmor der Säulen, die damals gerade renoviert wurden, beim Trocknen abgab. An dem Ding fummelte jedenfalls einer von uns herum und versuchte, mit dem feinen Schreiber eine Botschaft auf der sich drehenden Papierwalze zu hinterlassen.

Wir schafften den Rückweg über den Balken und hatten den Abgrund zwischen den Mauern überwunden. Nun kletterten wir aus der Luke vom Dachboden herunter, als wir schwere Schritte hörten, die sich durch den langen Flur im oberen Stock des Franzosenbaus näherten. Der Fuzzy war auf Patrouille. Fuckfuckfuck. Mit seinem untrüglichen Gespür würde er auf der Stelle die gesamte Situation erfassen, ein Urteil fällen und noch an Ort und Stelle vollstrecken. Das war’s dann. Wir waren geliefert.

„Hat jemand Zigaretten dabei?“ fragte der Schobinger da. Gute Idee. Noch schnell eine rauchen vor dem Ende. „Was soll die Scheiße?“ knurrte Pogo verärgert. Der Grieche kramte eine zerknitterte Schachtel Papastratos aus der Hosentasche und hielt sie dem Schobinger hin. Die Schritte kamen näher und man konnte schon das gutgelaunte Summen deutlich vernehmen. In aller Seelenruhe ließ sich der Schobinger vom Griechen mit zitternden Fingern Feuer geben, dann ließ er sich auf einem der Stühle im Rauchereck nieder und sah uns auffordernd an. Blitzartig rissen wir dem Griechen seine filterlosen Kippen aus der Schachtel und verteilten uns auf die restlichen Stühle und rauchten – eine Handvoll entspannter Sekundaner, die sich spontan auf einen kleinen Plausch im Rauchereck getroffen hatten. Mitten in der Nacht.

„Ja, was machts denn ihr da heraußen mitten in der Nacht?“ dröhnte der Bass des Fuzzi durchs Treppenhaus. „Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“ Wir murmelten was von: noch was dringendes zu besprechen wegen der Theateraufführung vom Leu am Wochennende oder irgend einen anderen fadenscheinigen Unsinn. Der Fuzzi ließ seinen Röntgenblick über unseren kleinen Haufen streichen. Irgendwas war hier faul, das konnte er riechen. In dem Moment rieselte aus der Dachluke ein feiner Faden Staub. Der Fuzzi hob ruckartig den Kopf, zerrieb etwas von dem Staub zwischen seinen Fingern und roch daran. Dann streckte er seine riesige Pranke über den Kopf und drückte die Dachluke, die noch einen Spalt offen stand, ins Schloß. Sie knarzte etwas und öffnete sich wieder.

„Ihr machts jetzt eure Zigrettn aus und verschwindet auf eure Stubn und zwar zackzack.“ Er warf noch einen Blick auf die Dachluke. „Des soll der Hausmeister richten morgen.“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rauschte davon. Wir hatten Glück gehabt, waren noch einmal davon gekommen. Wir klopften uns den Staub aus den Haaren und verschwanden in den Zimmern. Und in den folgenden Tagen nickten wir uns verschwörerisch zu, wenn wir uns auf den Schulgängen begegneten.

Die Baubehörde war es dann am Ende, die das nächtliche Eindringen in den Dom bemerkte und dem Kolleg meldete: Das empfindliche Hygrometer am Altar habe die erhöhte Luftfeuchtigkeit, die mit Sicherheit von menschlichen Körpern abgesondert worden war, samt Uhrzeit registriert. Erstaunlich, was die Technik schon damals zu leisten vermochte. Ob man sich das erklären könne?

Ärger gab es übrigens nach einer anderen, späteren Tour durch den Dom, als ein Junge in den Glockenturm neben dem Hauptportal stieg und versehentlich die Papstglocke in Gang setzte, die – man ahnt es bereits – nur dann geläutet wird, wenn der Chefposten in Rom neu zu besetzen ist. War er aber nicht. Johannes Paul II. hatte damals noch rund zwanzig Jahre Pontifikat vor sich. Die Popen fanden das mit dem Läuten aber nicht so lustig und ließen den Erzbischof aus Freiburg kommen, um den Dom neu zu weihen. Aber das ist eine andere Geschichte – und vielleicht gibt es ja jemanden, der sie kennt und hier erzählen mag.

Autor

  • Gaucho

    ... hat 1985 Abi gemacht und Wirtschaft und Politikwissenschaften studiert. Zur Zeit lebt er in München, wo er als Journalist und Mediengestalter arbeitet. Gaucho gehört zum Team der Kollegsgeschichten.