When I get older, losing my hair . . . when I’m sixty-four
Michael war gerade 64 geworden, als er von den „Kollegsreflexionen“ erfuhr, aus denen jetzt die „Kollegsgeschichten“ geworden sind. Anhand der seinerzeit gestellten Intitialfragen präsentiert er uns nun eine Collage seiner Erinnerungen und ein Resümee seiner Kollegszeit.
Ich war tatsächlich gerade 64, als die Initiatoren der „Kollegsreflexionen“, aus denen jetzt diese Kollegsgeschichten geworden sind, dazu aufriefen, nun ja, eben zu reflektieren: „Wie hat dich das Leben im Kolleg geprägt und gab es in dieser Zeit Erlebnisse, die dich bis heute in deiner Entwicklung begleitet haben?“ Ein Resümee nach – huch! – knapp einem halben Jahrhundert.
Ins Kolleg kam ich1968, ein Jahr nach dem legendären Beatles-Song „When I’m Sixty-Four“ – nicht ganz freiwillig, denn meine Schulkarriere im staatlichen Gymnasium am Niederrhein hatte in der Untertertia grandios zu scheitern begonnen; aber ich war auch nicht widerwillig, mich in diesen über 500 Kilometer entfernten Ort verpflanzen zu lassen.
Also die Prägungen? Das Kolleg hat vor allem meine sozialen Fähigkeiten und mein ethisches Empfinden geprägt und meinem Denken (und Sprechen und Schreiben) eine dauerhaft tragfähige Struktur verliehen.
Mein Glück war die Mischung aus jesuitischer Rationalität und der offensiven sozialen Haltung meines zweiten, jetzt weltlichen, Präfekten Herbert Kramer, ausgebildeter Sozialarbeiter, hartnäckiger Hinterfrager und unkonventioneller Typ. Der Chor war daneben eine emotional sehr wichtige Aktivität; ich bin später noch in mehreren anderen Chören gewesen, die mich ebenfalls in mehrfacher Hinsicht bereichert haben. Hier hat der Kollegschor ein Fundament gelegt.
„Gibt es Erlebnisse, die du in der Rückschau heute anders bewertest als damals?“ – Erlebnisse eigentlich nicht; eher Einstellungen. Ich bin im Laufe meiner Kollegszeit tief religiös geworden, sowohl spirituell als auch „theologisch“. Heute bin ich – nach einigen Umwegen – kirchenkritischer Agnostiker. Das bedeutet aber nicht, dass ich mit der religiösen Prägung während meiner Kollegszeit hadere; sie bleibt eine wichtige Phase in meinem Leben.
Strenge Führung kann (!) das Verhandlungsgeschick fördern
Was die größten Herausforderungen am Kolleg waren und was ich daraus gelernt habe, lautete eine weitere Frage. Für mich waren das weniger persönliche Herausforderungen als solche, von denen mehr oder weniger die ganze Kollegsgemeinschaft betroffen war. Ich habe mich am Kolleg sehr wohl gefühlt, vor allem, weil ich das dauernde Zusammensein mit Gleichaltrigen genoss. Besonders in der ersten Zeit am Kolleg „war“ ich eher eine Herausforderung, als dass ich welche erfuhr. P. Zieher, mein erster Präfekt in der 4. Abteilung, schrieb tatsächlich in die erste Internatsbewertung: „Michael hat sich einer revolutionären Gruppe angeschlossen.“ – Begrifflich Unfug; unsere 6er-Tischgruppe war renitent, wenig regeltreu und „a pain in the ass“, aber Umsturzpläne hegten wir nicht.
Eine große allgemeine Herausforderung waren Auseinandersetzungen mit der Kollegsleitung. Dazu zählten u. a. der Schulstreik wegen des Verbots, als Kollegsschüler den Jusos beizutreten, und heftige Auseinandersetzungen um die Entlassung eines bei uns sehr beliebten Lehrers, der aber bei der Kollegsleitung missliebig war.
Ich habe unter anderem als Abteilungsrat und Schülerrat viele harte Verhandlungen geführt, bis hinauf zu Kollegsdirektor P. Kiefl, und meine Fähigkeit, schriftlich und mündlich zu argumentieren, wurde dadurch intensiv geschult. Die gut vermittelte kommunikative und soziale Kompetenz, ein recht breit gestreutes Halbwissen (vulgo: humanistische Bildung) und die Fähigkeit, mich in sehr unterschiedliche Felder einzuarbeiten, sind auch Ergebnisse dieser Prägung durch das Kolleg, die ich bis heute in vielen Zusammenhängen nützlich finde.
Die Vorzüge bzw. Nachteile einer Internatsausbildung gegenüber regulären Schulen liegen für mich sehr klar auf der Hand. Die geübte Gemeinschaft über die schulischen Belange hinaus bietet hervorragende Chancen, eine wesentlich intensivere persönliche Entwicklung durchzumachen, wenn man denn die vielen Angebote aufgreift. Die andere Seite der Medaille ist – jedenfalls für mich – bei dem hohen Maß, in dem ich mich im Kolleg engagiert hatte, dass ich zugleich von meiner Umgebung „zu Hause“ entwurzelt war. Das Kolleg war am Schluss, nach sechs Jahren und dem Abitur, mein eigentliches Zuhause geworden; ich fiel danach etwa ein Jahr lang in ein ziemlich tiefes Loch, bis ich wieder ein neues Umfeld hatte.
Aber: You can’t eat the cake and have it!
(Foto: „Schock“-Plakat von Miguel Lockett, Archiv des Autors)