Kein Internatsleben unter der Gürtellinie 

Wenn der Verfasser des folgenden Textes sagt, dass Sexualität (eigentlich) kein Thema im Internat gewesen sei, redet er (eigentlich) von seiner Kollegszeit 1968–1974. Aber auch heute findet sich, zumindest über die Stichwortsuche auf der Kollegswebsite, nichts Konzeptionelles dazu, wenn man „Sexualpädagogik“ oder „Sexualität“ eingibt. Vielleicht täuscht das ja, und hinter den Kulissen ist die jesuitische Erziehung da voll am Ball. Für die Zeit vor 50 Jahren war’s jedenfalls nicht so. Aber natürlich gab es das Thema… 

„Homosexualität ist ein Schande!“, donnerte Pater F. in die 9. Klasse, und wir schwiegen. Es war kurz still, wir waren peinlich berührt – und feige. Wir hätten unseren Mitschüler in Schutz nehmen können, den F. zwar nicht namentlich genannt, aber erkennbar gemeint hatte. Er war nicht schwul; wir hatten keine Ahnung, wie F. auf den Verdacht gekommen war; es war ein Fremdsprachenfach; F. war kein Präfekt. Wir waren völlig konsterniert. 

Die weitgehende Reform des „Schwulenparagraphen“ 175 StGB kam erst 1973. Homosexualität war nicht nur ein schwerer Vorwurf, sexuelle Handlungen waren auch ein Grund für einen Kollegsverweis. Wir hatten kein kritisches Bewusstsein dazu, uns war einfach nur äußerst unbehaglich. 

Brevierbeten vor dem Schlafsaal

Sexualisierte Gewalt  oder die Missbrauchsfälle, die es ja auch in St. Blasien gab, waren uns unbekannt. Jedenfalls waren sie kein Gesprächsthema. Sie hatten ja auch schon etliche Jahre vor meiner Internatszeit stattgefunden und dann wieder um einiges später. Aber pubertär, wie wir waren, und auch ungehobelt im Umgang mit dem Thema Sexualität, hatten wir grobe Vorstellungen, wie wohl zölibatär lebende Patres und Brüder mit ihrer eigenen Sexualität umgingen, inklusive entsprechender Interpretationen bei der Hand. 

Zum Beispiel gab es einen Bruder, der öfters zur Bettgehzeit im Gang vor unserem großen Schlafsaal Brevier betend auf und ab ging. Wir waren der sicheren Ansicht, dass es ihm in Wirklichkeit darum ging, wenig bekleidete 12- bis 14-Jährige zu beobachten, also machten wir uns einen Spaß daraus, mit nacktem Oberkörper an ihm vorbei über den Gang zu den Toiletten zu laufen und ihm so Stielaugen zu machen. Ob er uns in Wirklichkeit nur freundlich angesehen hat – wer weiß? Dazu hatten wir ebenso unsere erhitzten Phantasien wie zu den vermutlichen Wegen der Triebverschiebung bei Pater T., dem unsere Küchenpsychologie ein deutliches Syndrom aus starkem Schwitzen, heftigem Bewegungsdrang und auffallend strikten religiösen bzw. moraltheologischen Äußerungen attestierte. 

Nicht jedes Vakuum füllt sich mit Perlen

Sollte es – z. B. im Biologieunterricht – Einheiten zur sexuellen Aufklärung gegeben haben, dann hat das keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Was es ganz sicher nicht gab, war Erziehung zu einem sozialen, achtsamen Umgang mit Sexualität, der über die Einhaltung des sechsten und neunten Gebots hinausgegangen wäre. Was da bei uns entstand, war Wildwuchs, und diese Wildnis war durchaus auch unergötzlich. Unter uns ablaufende Gespräche oder auch nur hingeworfene Bemerkungen waren oft einfach vulgär und gemein. Ein noch eher junges externes Mädchen bekam die Bezeichnung „Kollegsmatratze“ angehängt; ich bezweifle allerdings stark, dass irgendwer von uns überhaupt auch nur eine Ahnung von ihrem Privatleben hatte. Eine Lehrerin war – wohl ohne es jemals zu erfahren – Zielscheibe unseres beißenden Spotts, weil wir glaubten, im Gegenlicht der ins Klassenzimmer scheinenden Sonne einzelne aus dem Reißverschluss ihrer Hose lugende Schamhaare orten zu können. – So in der Art lief das ab. 

Kultiviert wurden wir (nach Kräften) intellektuell, sportlich, auch künstlerisch und im allgemeinen Sozialverhalten, aber unser Umgang mit dem anderen Geschlecht und mit Sexualität entsprang ungefiltert einem finsteren Höllenschlund; da machte keiner was dran. 

Wo das anders, zivilisierter, anständiger ablief, war es individueller Charakterbildung geschuldet, vielleicht hier und da dem Vermögen Einzelner, erlernte oder mitgebrachte allgemein soziale und ethische Einstellungen auch auf diesen unbeackerten Bereich zu übertragen. Und: Manchmal überwog das starke, ungeschriebene Gesetz der Kameradschaft und ließ z. B. Diskretion walten. Es gab ein schwules Paar in einer anderen als meiner Abteilung. Sie waren vorsichtig, aber es war unter uns weithin bekannt. Ich selbst kam einmal zufällig in die Situation, sie zu „erwischen“. Die beiden waren beliebte Schüler. Sie schafften das Abitur, ohne dass jemand sie verpetzte; ich habe auch nie eine abfällige Bemerkung über sie mitbekommen. 

PS: Fundstücke zur Sexualpädagogik im weitesten Sinne

  • „Anträge der Eltern: … ‚Probleme einer zeitgemäßen Geschlechtserziehung‘ – Frage von Herrn Dr. med. S. hierzu: „Wird in der sexuellen Information am Kolleg genug getan?‘ Die Diskussion hierüber ließ klar erkennen, dass hier noch etwas mehr getan werden kann und werden muss. Ein Möglichkeit ist darin zu sehen, dass sich aus den Reihen der Eltern Ärzte bereitfinden, die in jedem Tertial einen Vortrag übernehmen. …“
    (Aus einem Protokoll  – Kollegsrat? – aus dem Jahr 1970)

  • (Karikatur zur „Pille“ und zur Enzyklika „Humanae Vitae“ in der Schülerzeitung „Aspekte“)
  • „Bei der Sexualerziehung scheint mir ein Problem auch das zu sein, dass sie allzusehr theoretisch ist.“
    (Antrittsinterview mit Heimleiter P. Kappeler in „Aspekte“)
  • „Das Vordringen der Erotik in Deutschland steht in einem direkten Verhältnis zum Fortschritt der Sozialdemokraten…“
    (Osservatore Romano, zitiert in „Aspekte“)
  • „Fortbildung und Supervision für Pfarrer und Jugendseelsorge, insbesondere auch zum Umgang mit (der eigenen) Sexualität, um Risiken einzelner Ordensmitglieder zu erkennen“
    (Empfehlungen zu Präventionsmaßnahmen im Orden im „Bericht über Fälle sexuellen Missbrauchs an Schulen und anderen Einrichtungen des Jesuitenordens – 27. Mai 2010 von Ursula Raue“ (Download)

{Foto von Christoph Polatzky auf Unsplash}

Autor

  • Michael Praschma

    Michael war im Kolleg von der 4. Abteilung bis zur OA, engagiert pädagogisch begleitet von den Präfekten Zieher, Kramer, Rusnak und Jeran; 1. Generation der Bewohner des Ostflügels mit Einzelzimmern. Zivildienst, Studium der Sozialarbeit und Erziehungswissenschaften in Essen, Leiter eines Gemeinwesenarbeits-Projekts; seit 1989 bis heute selbständig als Texter, Autor und Lektor; verheiratet, 2 Kinder.