Kolleg im Morgennebel

Aus heutiger Retrospektive gesehen nicht ganz daneben.

Der allererste Schülersprecher des Kollegs meldet sich zu Wort und berichtet aus seiner 9-jährigen Internatszeit im Kolleg, in der er nicht nur viel erlebt sondern auch – insbesondere in der zweiten Hälfte der 60-er Jahre durch Einführung einer erstmaligen Schülermitverwaltung – bewegt hat. Es gab da wohl zunächst „gewisse Widerstände der Kollegsleitung“…

In das Kolleg St. Blasien kam ich gewissermaßen nur im Rahmen einer zweiten Wahl. Mein Vater, der als Halbwaise aufgewachsen war – sein Vater war nämlich im ersten Weltkrieg bei Verdun gefallen –  hatte sein Abitur in Feldkirch in der Stella Matutina gemacht. Der Aufenthalt dort hatte ihn so nachhaltig geprägt, dass es für ihn keine Frage war, dass auch seine Kinder dort in die Schule gehen würden. Aber meine Mutter war nach einer Ortsbesichtigung in Feldkirch so ernüchtert, dass sie eine zweite Alternative eingefordert hatte.
St. Blasien war zwar auch nicht viel einladender, alles war sehr groß und unübersichtlich, aber immer noch einen Tick besser als in Feldkirch, wo uns vor allem die Schüler in Erinnerung geblieben sind, die ausnahmslos mit langen Gesichtern herumliefen, und die kollektiv schwarz gekleideten Patres, die ihnen mit finsteren Mienen nachschauten, damit keiner etwas falsches macht. 

Im Kolleg, ich kam 1960 dorthin und war immerhin neun Jahre dort, tat ich mich am Anfang – wenig überraschend – relativ schwer, weil ich oft das Gefühl hatte, irgendwie in einem falschen Film oder auf der falschen Bühne zu sein. Unser Lateinlehrer in der Sexta, Herr B. z.B., stellte sich der Klasse der Sextaner zwar mit seinem bürgerlichen Namen vor, er setzte aber auch gleich hinzu, dass wir ihn ausschließlich mit „Herr Professor“ anzusprechen hätten. Wir hatten damals sechs Stunden Lateinunterricht in der Woche, die mussten wir aber erst einmal überstehen, weil sich der Herr Professor beim Abfragen der Konjugationen und Deklinationen immer neben den jeweiligen Schüler stellte und im Takt von amo, amas, amat, amamus usw. mit seiner Faust auf unseren Oberarm boxte, um uns Schüler so gewissermaßen hautnah an den Rhythmus seiner Didaktik zu gewöhnen. Wir hatten alle nach und nach blau geschlagene Oberarme.

Auch das Schlafen in einem Schlafsaal mit 30 oder 40 anderen Mitschülern war mir am Anfang etwas unge­wohnt, vor allem deswegen, weil es immer elend kalt war und weil wir uns ausschließlich mit kaltem Wasser waschen konnten. Immerhin hatte jeder sein eigenes Waschbecken für sich, ein Luxus, den es später beim Militär nicht mehr gab. 

Insgesamt habe ich mich im Lauf der Zeit, sprich in den ersten zwei bis drei Jahren, irgendwie so in die Hierarchieebenen des Internats- und Schulbetriebes eingefügt, dass ich mich im Kolleg wohlgefühlt habe und dort auch irgendwie heimisch geworden bin. Andernfalls hätte ich die Schule vorzeitig wieder verlassen müssen, was ich nicht tun wollte, schon allein um meine Eltern nicht zu enttäuschen. Denen habe ich stets geglaubt, dass sie mit meiner Entsendung auf diese Schule und in dieses finstere Schwarzwaldtal das Bestmögliche für mich und meine Erziehung und Ausbildung tun wollten, was auch wieder aus heutiger Retrospektive gesehen, nicht ganz daneben war.

In den ersten Jahren hatte ich einen honorigen Ansprechpartner im Haus, den mir mein Vater bei unserem Besuch im Kolleg dringend empfohlen hatte. Pater Fiala SJ war der Oberpräfekt für die Oberstufe, also eine durchaus gewichtige Respektsperson innerhalb der Kollegshierarchie, und er war vor allem ein ehemaliger Klassenkamerad meines Vaters aus der gemeinsamen Zeit beider in der Stella in Feldkirch. Bei ihm hätte ich jederzeit vorsprechen können, wenn mir alles zu viel geworden und über den Kopf gewachsen wäre, was aber zum Glück nie der Fall war. Aber allein die Existenz dieser Möglichkeit war damals schon ein großer Trost für mich. Außerdem kam nach dem ersten Schuljahr allein im Kolleg schon mein jüngerer Bruder Georg, ebenfalls als Sextaner, ins Kolleg und drei Jahre später der nächste Bruder Matthias. Insofern war ich niemals ganz allein auf mich selbst gestellt, aber das war ich sowieso nicht, weil ich bald schon eine ganze Reihe anderer Freunde unter meinen Mitschülern gefunden hatte.

Auch erinnere ich mich gerne an die Musik und da vor allem an unseren wackeren Kapellmeister Schuster, der gerne mal einen über den Durst trank und dann „seinen Männern“, wie er uns immer nannte, großzügig einen Cognak spendierte. Ich spielte Querflöte und konnte so sowohl im Blech als auch im Orchester mitspielen, sofern im Orchester etwas mit Flöte geprobt wurde, woran ich mich gerne erinnere. Leider ist mir mein Instrument verloren gegangen, ich würde es heute gerne hin und wieder noch spielen wollen.

Die Einzelheiten bei der letztlich erfolgreichen Einführung einer erstmaligen Schülermitverwaltung im Kolleg, die wir in der zweiten Hälfte der 60-er Jahre in Anlehnung an die Bestrebungen zur Einführung studentischer Mitbestimmung an den besonders „fortschrittlichen“ Universitäten in Frankfurt, Bremen und Berlin gegen gewisse Widerstände der Kollegsleitung durchgesetzt hatten, und meine anschließende Wahl in den Schülerrat sind mir nicht mehr im Detail in Erinnerung. Sicherlich war es nicht der Verdienst einzelner Personen, sondern es haben viele daran mitgewirkt, die Konstruktion auszudenken und zu etablieren, und ich war am Ende so etwas wie der Profiteur, wenn man das so bezeichnen will. Zu Beginn war das aber nie meine Absicht gewesen.

Immerhin war damals im Schülerrat auch der ein oder zwei Jahre jüngere Ivo Gönner mein Stellvertreter, der später in die Politik gegangen ist und über lange Jahre hinweg Oberbürgermeister in Ulm war. Als Schulsprecher habe ich es als meine Hauptaufgabe angesehen, Streit zu schlichten, wenn irgendwo welcher entstanden war, und den gab es immer mal. Ich kann mich gleichwohl an keinen Fall erinnern, für den wir nicht eine einvernehmliche Lösung gefunden hätten. Auch habe ich mich von der Kollegsleitung, P. Kiefel SJ war damals der Rektor, immer ernst genommen gefühlt und war sogar Mitglied im Kollegsrat, der allerdings relativ selten im Jahr zusammenkam. Sicherlich hätte man noch viel mehr machen können. Meine Vision war es immer, Kontakte zu anderen Schülermitverwaltungen in anderen Internaten herzustellen, aber wir mussten uns nebenbei ja auch noch auf das Abitur vorbereiten, und so war in der Kürze der Zeit einfach nicht alles möglich, was wir uns erträumt hatten. Heute mit Internet und Mobiltelefon ist das alles kein Problem mehr, aber das gab es 1968 alles noch nicht, das darf man nicht vergessen.

Nach dem Abitur 1969 hatte ich dann die Adressen aller Abiturienten eingesammelt und habe versucht, auf schriftlichem Weg alle fünf Jahre ein gemeinsames Treffen zu organisieren, was mir auch meistens gelungen ist. Oft haben wir uns in St. Blasien getroffen, um dort in Erinnerungen zu schwelgen oder neue Erfahrungen auszutauschen, aber einmal auch in München, wonach dann allerdings der allgemeine Wunsch geäußert wurde, doch lieber wieder in dem schönen Schwarzwald zusammen zu kommen.

(Foto: Altkollegianerin Carolin Hüttemann)

Autor

  • Peter Hoffmann

    Nach dem Abitur 1969 absolvierte Peter den Wehrdienst, dann ein Studium der Chemie in Mainz. Danach Eintritt in die Patentabteilungen namhafter Technik- und Chemieunternehmen. Seit 2015 im Ruhestand, aber noch bis 2021 als Aushilfsfahrer in einer Spedition für Gefahrgut (Heizöl, Diesel) regional im Rhein-Main Gebiet unterwegs. Ehrenamtliche Mitarbeit in kath. u. ev. Kirchengemeinden.