Krisen

Aktuelle Ereignisse bringen dem Autor Erlebnisse aus seiner Kollegszeit detailliert in Erinnerung und er nimmt uns mit auf eine spannende Zeitreise in eine Vergangenheit des Kollegs zu Zeiten der Kuba-Krise. Er schildert anschaulich, wie er das Weltgeschehen damals als heranwachsender Kollegianer wahrnahm, als die Zeitung erst einen Tag später kam, ohne Internet und weder Fernsehen noch Radios waren erlaubt – nur beim Präfekten im Zimmer, wenn dieser denn Zeit hatte.

11. Juni 2023
Seit dem 24. Februar 2022 ist Krieg in der Ukraine, der nun schon 473 Tage andauert.
Damals und seitdem immer wieder muss ich an Überlegungen und Befürchtungen denken, die ich ähnlich schon einmal erlebt hatte: Die Zeit, von der ich dabei zu erzählen habe, liegt sehr lange zurück. Es war damals nicht alles anders als heute, aber doch vieles. 

Ich kam am 24. April 1956 ins Kolleg St. Blasien. Das Kolleg hatte damals ca. 500 interne Schüler, vielleicht 20 externe Schüler und gar keine Schülerinnen. Schulisch war alles in Klassen gegliedert, im Internat in Abteilungen. Diese wurden von Präfekten geleitet, jungen Jesuiten, die seit ihrem Ordenseintritt bis dahin nur das Noviziat hinter sich hatten.

Jedem dieser Abteilungen war ein Studiensaal, ein Schlafsaal und ein Spielsaal zugeordnet, die altersgerecht ausgestattet waren. Die Kleinen durften fast nichts, aber im Spielsaal der 8. Abteilung, der OA, gab es dann schon einen Billardtisch, Zeitungen und ein Radio. Eigene Radios waren nicht erlaubt, was aber dann zunehmend unterlaufen wurde, je kleiner solche Geräte und je billiger Kopfhörer wurden. Fernsehen aber war streng für die OA reglementiert, es sei denn, dass es so Wichtiges zu sehen gab, wie z.B. 1963 die Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils, was zu diesem Anlass sogar in der Turnhalle auf eine große Leinwand projiziert wurde. 

Was sonst aber so in der Welt vorging, erfuhr man im Kolleg nur von den Lehrern, den Präfekten, den Externen oder denjenigen unter uns, die von den Zeitungen auch die ersten Seiten lasen. Ich selbst wollte irgendwann einmal möglichst aktuell informiert sein und ließ mir deshalb ab ca. 1960 eine Tageszeitung abonnieren, die am jeweils nächsten Tag mit der Post kam.

So war ich auch immer über die Entwicklung in Kuba informiert. Nach und nach hatten wir nämlich alle erfahren, daß 1959 ein junger 32-jähriger Rechtsanwalt, der Fidel Castro hieß, in Kuba einen Umsturz der Regierung erreicht hatte. Er beabsichtigte, die Insel vom US-amerikanischen Einfluss zu lösen und begann deshalb, in Kuba den Kommunismus einzuführen, was wiederum im Westen von keiner Regierung begrüßt wurde. Im damals bestehenden Ost-West-Gegensatz führte das vielmehr sofort zur Ablehnung des neuen Regimes durch die USA, und diese Ablehnung wurde durch die zahlreichen Exil-Kubaner verstärkt, denn in Kuba wurde unter Castro dann nicht nur die Mafia enteignet, sondern alle, die etwas hatten oder etwas konnten, und viele davon flohen nach Florida. Um an der Macht zu bleiben, brauchte Castro deshalb aber von woanders her Unterstützung, und die Sowjetunion war dazu nur allzu gerne bereit. Auch die UdSSR hat dies wohl nicht aus kommunistischem Idealismus getan, sondern in der Absicht, endlich unmittelbar vor der US-amerikanischen Küste einen Stützpunkt zu bekommen und damit im Ost-West Konflikt einen wertvollen Stich zu machen. 

πάντα ῥεῖ, wie der alte Grieche sagt, gilt und galt: Die politische Lage blieb nicht konstant, sondern entwickelte sich. In der Sowjetunion war Nikita Chruschtschow an die Macht gekommen, der amerikanische Präsident hieß ab 1961 John .F Kennedy, und die kubanische Revolution festigte sich, ohne im Westen anerkannt oder geduldet zu werden – und auch wir Kollegianer wurden jedes Jahr ein Jahr älter. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis, wie der alte Römer sagt.

So wurde in diesen Jahren im Kolleg auch ein Teil der bis dahin bestehenden Studier- und Schlafsäle umgebaut und zu Studierzimmern mit vier Schreibtischen und Schlafräumen mit sechs Alkoven sowie Waschgelegenheiten eingerichtet. In den beiden Stockwerken über der Küche waren wir in der 7. Abteilung und der OA dann die ersten, die diese Neuerungen beziehen konnten.

Obwohl auch in diesen Zimmern ab 16:15 Uhr bis 18:00 Uhr das übliche Schweigegebot gefordert war und um 21:30 Uhr “Licht aus” galt, ergaben sich doch leichter Gelegenheiten, mit den Kameraden während des Studiums oder dann in den Schlafräumen auch mal über die Sperrstunde hinaus Gespräche zu führen. Man lernte so halt, mit den Gegebenheiten umzugehen, auch wenn es nicht das Einzige, aber auch nicht das Schlechteste war, was wir dort lernten.

Nachmittags war Sport, musische Ausbildung oder Spaziergang, und auf diesen Spaziergängen tauschte man sich – heranwachsend – dann weniger über Filme und dergleichen, sondern zunehmend auch über Politik und die politische Lage aus. Neben allem, was auf der Erde geschah, hatte ja auch ein spannender Wettkampf um das Firmament begonnen. Die Sowjetunion, von uns damals eher umgangssprachlich “Russland” genannt, hatte mit Sputnik, dem ersten Satelliten, vorgelegt; die Amerikaner aber, dadurch gereizt, legten verschärft und erfolgreich nach. Sie entwickelten zudem einen Fernaufklärer, die U-2, ein Flugzeug, das aus damals unvorstellbar großen Höhen alles fotografieren konnten, was man sehen und wissen wollte. Man interessierte sich z.B. dafür, ob bei den Russen gute oder schlechte Ernten zu erwarten waren und vieles andere, aber natürlich und vor allem auch für die militärische Infrastruktur.

In dieser Zeit lösten sich auch in Afrika die englischen und französischen Kolonien auf, und fast monatlich entstanden neue Staaten mit neuen Problemen. Es war viel los überall auf der Welt. Immer wieder gab es auch Nachrichten über Kuba, vor allem, als dort eine von Exil-Kubanern durchgeführte Befreiungsinvasion in der Schweinebucht scheiterte. 

1962 kam es dann plötzlich zu sensationellen Enthüllungen. Nein, es war kein Fake, wie es Graham Green in seinem „Our man in Havanna“ (sehr lesenswert) geschrieben hat. Tatsächlich entdeckte die CIA durch die Aufklärungsflüge der U-2 Raketenbasen und russische Raketen auf Kuba: 200 Meilen vor Florida, 1.600 Meilen vor Washington, 2.000 Meilen vor New York; Flugzeit 5 min, 20 min, 30 min.

Da war dann Schluss mit Lustig.

„Nur zur Verteidigung“, sagten die Russen.

„Angriffsgeeignet“, sagten die Amerikaner und: „Nicht vor unserer Haustür.“

„In Finnland und der Türkei gibt es doch auch Raketen“, entgegneten die Russen. 

„Nur zur Verteidigung“, erklärten die USA.

Alles so, wie immer – damals halt.

Aber es schien, als wollten beide Seiten diesmal aus dem bekannten Hick-Hack-Spiel ernst werden lassen. Keiner konnte nachgeben, ohne das Gesicht zu verlieren. Schwierig.

„Abzug“, forderten die Amerikaner.

„Weiterer Ausbau“, beharrten die Russen.

„Dann wird Kuba blockiert“, trumpften die Amerikaner. 

„Da brechen wir durch“, stachen die Russen.

So ging es in den Oktober 1962; es wurde bedrückend. Wer würde nachgeben oder nachgeben müssen? Wer würde sich durchsetzen können?

Kennedy konnte nicht nachgeben. Chruschtschow hätte gekonnt, wollte aber nicht. Noch schwieriger.

Man erinnert sich an den Film „12 Uhr mittags“, in welchem bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Lösung in Sicht war – außer dem Shoot-out halt. Ganz schwierig.

Und wir in St. Blasien? Zeitung erst einen Tag später, kein Fernsehen, Radios nicht erlaubt, nur beim Präfekten im Zimmer, wenn er Zeit hatte. Schließlich kamen doch die heimlichen Transistor-Radios zum Vorschein. Es war zu wichtig, aktuell informiert zu sein. Es ging um unsere Zukunft!

Die Russen blieben ungerührt. Mehrere Schiffe seien auf dem Weg nach Kuba, wurde verlautbart, eines mit weiteren Raketen schon im Atlantik, begleitet von U-Booten mit Atomwaffen. Die USA hatten sowieso immer Bomber mit Atomwaffen am Himmel.

Das war die Kuba-Krise.

27 .Oktober 1962
Die USA verkündet, kein weiteres russisches Schiff mehr nach Kuba zu lassen. Die UdSSR sagt: „Njet, wir fahren”.

Es wird davon berichtet, dass die USA wirklich keinen Bruch der Blockade zulassen werden und bereit seien, Waffengewalt anzuwenden. Beide Seiten erklärten, wenn es dazu komme, würden Atomwaffen eingesetzt. Davon wären auch wir in Europa direkt betroffen.

Die Amerikaner zwingen ein russisches U-Boot zum Auftauchen. Das russische Schiff aber, das auf Kuba zufährt, fährt weiter und befindet sich in der Mitte des Atlantiks, etwa vier Zeitzonen weiter als Europa, Kuba fünf Zeitzonen, Washington sechs.

Bis um 21:00 Uhr St. Blasien (17:00 Uhr Atlantik, 16:00 Uhr Kuba, 15:00 Uhr Washington) hat noch niemand nachgegeben, aber wir müssen schon die Studierzimmer verlassen. Im Schlafraum wird heftig weiter diskutiert. Wird einer nachgeben? Wer wird auf den roten Knopf drücken? Wird das russische Schiff doch anhalten oder gar umdrehen? Werden die Amerikaner die Weiterfahrt doch zulassen? 

Jeder von uns ist mal Kennedy und gleich danach wieder Chruschtschow und dann wieder umgekehrt.

Aus unseren kleinen Radios erfährt man nichts Genaues; nur soviel, dass Kennedy ultimativ das Abdrehen des Raketenschiffes gefordert hat, heute noch. 24:00 Uhr Washington ist 01:00 Kuba, 02:00 Atlantik, 06:00 St. Blasien.

Der Präfekt macht die Tür auf: „Licht aus, jetzt, es ist schon 22:15 Uhr! Morgen ist auch noch ein Tag“. Wird morgen noch ein Tag sein ? Wenn die Atomraketen fliegen sollten, wird zwar morgen noch ein Tag sein, aber wir werden ihn wohl nicht mehr erleben. Wir schließen das Schlimmste nicht aus, geben aber doch dem Ruf zur Ordnung nach. Jeder verabschiedet sich von allen fünf anderen, bis wo immer wir auch wieder zusammen sein sollten. 

Samstag ist es, 22:30 Uhr (18:30 Uhr Atlantik, 17:30 Uhr Kuba, 16:30 Uhr Washington), als schließlich „Licht aus“ ist. Ich kann noch lange nicht schlafen, weil ich mich noch an so vieles zurückdenke – und auch mal wieder bete. 

28. Oktober1962
06:45Uhr; Tür auf, „Guten Morgen, aufstehen!“

Es war der Präfekt, nicht Petrus oder gar der gerechte Richter. Erleichtert und neugierig fuhren wir aus den Betten.

„Das russische Schiff hat heute Nacht abgedreht.“

Die Glocken des Doms begannen zu läuten.

Es war Sonntag – und wir lebten!

11. Juni 2023 
Jetzt und heute leben wir immer noch.
 
Auch heutzutage noch läuten Glocken den Sonntag ein.

Wenn nur endlich jetzt auch noch das Schiff abdrehen würde.

Autor

  • Hieronymus Fürst Clary

    Hieronymus Fürst Clary, Jahrgang 1944, war 9 Jahre Internatsschüler des Kollegs. Bald nach dem Abitur 1965 studierte „Ronnie" dann Jura in München, was er mit beiden Staatsexamina abschloss. 1973 begann er eine Trainee-Ausbildung bei der Deutschen Bank in Frankfurt, wo er dann bis 1983 in der Firmenkundenbetreuung tätig war. Bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand war er anschließend Geschaftsführer einer Unternehmensberatungsgesellschaft. Er ist verheiratet, hat 4 Kinder und bisher 10 Enkel, und lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.