Hier liegt vor Deiner Majestät …

Zeitiger Anfang, straffe Taktung – und das vor allem wegen dieser angeordneten, täglichen Heiligen Messe, die deshalb äußerst unbeliebt war. Nur mittwochs war „Langschlaf“ und man konnte herrlich eine gute halbe Stunde länger im Bett bleiben.

Hier liegt vor Deiner Majestät…Mit diesen Worten beginnt die erste Strophe eines Liedtextes von Franz Seraph von Kohlbrenner aus dem Deutschen Hochamt von Michael Haydn, die seinerzeit in St. Blasien oft der täglichen Liturgie zugrunde lag:

Hier liegt vor Deiner Majestät im Staub die Christenschar,
das Herz zu Dir, o Gott erhöht, die Augen zum Altar.

Schenk uns, o Heiland, Deine Huld,
vergib uns uns’re Sündenschuld.
O Herr, vor Deinem Angesicht
verwirf uns arme Sünder nicht,
verwirf uns nicht, verwirf uns Sünder nicht!

Diese Strophe war während meiner Zeit in St. Blasien (1956-1965) in unserem dort benutzen Gesangbuch enthalten, dem Sursum Corda, Diözesan-Gesangbuch des Bistums Paderborn. Mit schönen, altmodischen Worten brachte dieser Text die Ehrfurcht zum Ausdruck, die Gott angemessen sein sollte. Für mich ist mit diesem Text gleichzeitig auch ein ehrfurchtsloses Verhalten verbunden, das folgende Ursache hatte:

Bis ich nach St. Blasien kam, war es für mich selbstverständlich gewesen, Sonn – und Feiertags mit der ganzen Familie in die Kirche zu gehen und die Heilige Messe mitzufeiern. Auch in St. Blasien war das dann natürlich selbstverständlich Pflicht. Aber dort kam nun auch noch der verpflichtende Besuch eines – außer mittwochs – täglichen Gottesdienstes dazu.

Unsere Tage begannen grundsätzlich so:

05:30 Uhr: Licht an. „Guten Morgen, aufstehen!“ – was einige taten, um aufs Klo zu gehen, Zähne zu putzen, sich zu waschen, später dann auch, um sich zu rasieren

05:40 Uhr Noch einmal, nicht mehr so freundlich: „Aufstehen, los jetzt!“ – was noch einmal ein paar andere mobilisierte. Der immer noch hartnäckige Rest musste sich dann halt entsprechend beeilen …

06:00 Uhr: Heilige Messe – und die Wegstrecke zu den einzelnen Kapellen (Hauskapelle, Canisius-Kapelle, Patresbau) musste genauestens mit einberechnet werden. Die kürzesten Messen – 22 Minuten – feierte Pater Adamek, bei allen anderen Patres dauerte es ein bisschen länger.

06:45 bis 07:15 Uhr „Streng-Studium“ mit Schweigepflicht

07:15 Uhr Frühstück

08:00 Uhr Beginn der ersten Stunde des Unterrichts

Zeitiger Anfang, straffe Taktung – und das vor allem wegen dieser angeordneten, täglichen Heiligen Messe, die deshalb äußerst unbeliebt war. Nur mittwochs war „Langschlaf“ und man konnte herrlich eine gute halbe Stunde länger im Bett bleiben. Die Pflicht-Messe wurde weitgehend abgelehnt und führte mit der morgendlichen Verschlafenheit bei vielen Kollegianern dazu, zwar ehrfurchtslos teilzunehmen, aber nicht bewusst mitzumachen, vor allem an den Gottesdiensten in der Hauskapelle.

Die im ersten Stock über der Internatspforte gelegene Hauskapelle war damals anders eingerichtet. Der Altar lag nicht wie heute vor der Fensterfront, sondern vor der Wand am linken Abschluss der länglichen Mitte. Da die damaligen Bankreihen allen Altersstufen gerecht werden sollten, waren sie eher niedrig und dadurch sehr geeignet, unauffällig „ehrfurchtslos“ zu sein: man beugte sich weit nach vorn über die Bank, heuchelt so tiefste Frömmigkeit – und schloss die Augen.

„Hier liegt vor Deiner Majestät…“, so brummte man mit, lag aber über der Bank und nicht im Staub; nichts war mit „das Herz zu Dir, oh Gott, erhöht“, nichts mit „die Augen zum Altar“. Nein, im Gegenteil, manche schliefen so fest, dass sie nicht einmal das Läuten zur Wandlung mitbekamen, sondern erst ein Ellenbogenstoß des Nachbarn ihren Kopf hochfahren ließ. Es war auch kein „meditieren“, mit dem man dieses Verhalten fälschlicherweise hätte entschuldigen können, nein, es war nichts weiter als stille Obstruktion.

Natürlich gab es viele Diskussionen mit den Präfekten über den Sinn dieser Pflicht-Messen. Das Totschlag-Argument der Patres war letztlich immer der Hinweis darauf, dass Rom das nun mal für alle Jesuiten-Internate so angeordnet hätte, Punktum. Und da sei eben nichts zu machen. Ich aber nahm mir im Stillen vor, dieses gewaltige Guthaben an Heiligen Messen dann über den Rest meines Lebens durch das Schwänzen von Sonntagsmessen abzubauen. Das habt ihr dann davon, ihr in Rom, so meinte ich.

Nach dem Abitur machte ich dann sofort einige Reisen zu Verwandten in der ganzen Welt, wo alle immer ganz selbstverständlich sonntags in die Kirche gingen. Im Sommersemester 1966 begann ich mein Studium in München. Damals war es leichter als heute, unterzukommen und so war ein Zimmer schnell gefunden, das ich ganz allein beziehen konnte.

Nach ein paar Tagen war Sonntag. Der erste Sonntag, an dem niemand, aber auch wirklich niemand mich zum Kirchgang hätte auffordern können oder überhaupt gemerkt hätte, wenn ich im Bett bleiben und damit die erste Abbuchung von meinem reichlichen Messe-Guthaben vornehmen würde. Niemand hätte es gemerkt, gar niemand.

Aber warum war ich denn – abgesehen von St. Blasien – bisher sonntags in die Kirche gegangen? Etwa nur deshalb, weil alle um mich herum auch gegangen sind? Oder etwa, weil ich meinte, ich müsse gehen? Oder etwa, weil ich bisher zu feige war, „nein“ zu sagen? Nein, all das war es nicht. Aber nur unreflektierte Gewohnheit war es auch nicht, da war schon noch etwas anderes.

Was ich mir all die Jahre vorgenommen hatte, hätte ich dennoch jetzt beginnen können. Aber, so dachte ich mir damals, was wäre das denn jetzt? Guthaben-Nutzung oder immer noch Protest, nachtragender Protest wegen der vielen Werktagsmessen in den Jahren im Kolleg? Ja, es wurde mir klar, dass es das war, und nur das: Protest, richtiger Protest!

Aber – so der nächste Gedanke – was ist denn so ein Protest wert, von dem niemand etwas bemerkt, niemand, gar niemand, jedenfalls kein Mensch? Und dann bin ich damals aufgestanden und in die Sonntagsmesse gegangen. Und seitdem fast immer, auch immer wieder in viele Werktagsmessen, und bis zu meinem Tod werde ich es auch weiter so machen. Und wenn dann manche Kirchenbänke sehr niedrig sind, beuge ich mich weit nach vorne, schließe die Augen, erinnere mich an den Text des Liedes, das heute nicht mehr im Gesangsbuch steht, und bete still:

„Hier liegt vor Deiner Majestät ein Teil der Christenschar. Verwirf‘ mich Sünder nicht“.

Sollte ich aber tatsächlich einen Schatz an Gnaden haben, den weder Rost noch Motten zerstören können, dann werde ich ihn auch sicher noch sehr nötig haben.

Autor

  • Hieronymus Fürst Clary

    Hieronymus Fürst Clary, Jahrgang 1944, war 9 Jahre Internatsschüler des Kollegs. Bald nach dem Abitur 1965 studierte „Ronnie" dann Jura in München, was er mit beiden Staatsexamina abschloss. 1973 begann er eine Trainee-Ausbildung bei der Deutschen Bank in Frankfurt, wo er dann bis 1983 in der Firmenkundenbetreuung tätig war. Bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand war er anschließend Geschaftsführer einer Unternehmensberatungsgesellschaft. Er ist verheiratet, hat 4 Kinder und bisher 10 Enkel, und lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.