Die Orgel-Ampel

Damit der Organist weiß, wie weit die liturgischen Handlung vorangeschritten ist, muss ein liturgieerfahrener Schüler von der Galerie aus Zeichen geben. Und der braucht einen Stellvertreter – der ebenfalls einen Stellvertreter braucht …

Wer den aus Rundbau und Chorraum bestehenden Dom in St. Blasien kennt, wird wissen oder sich daran erinnern, dass die Orgel – und damit auch der Organist – ganz hinten, oberhalb des Chorraums, ihren Platz hatten. Der Altar bestand zu meiner Kollegszeit, Abi 1965, nicht wie heute aus einem kleinen Altartisch und einem kunstvollen Gitter, das den Chorraum abgrenzt. Seinerzeit stand dort ein Hochaltar auf einem mehrstufigen Sockel, an dem die Priester mit dem Rücken zum Volk zelebrierten. Der Tabernakel war Teil eines sehr hohen hölzernen Altaraufsatzes, der den Altartisch selbst um viele Meter überragte und dadurch auch den Chorraum vom Kirchenraum zu den Seiten in der Rotunde abgrenzte. So war es für den Organisten nicht möglich, erfassen zu können, was am Altar, drumherum oder dem Rundbau selbst liturgisch gerade wie weit fortgeschritten war.

Es war aber wichtig, darüber Bescheid zu wissen, vor allem deshalb, weil in der Zeit, über die ich hier schreibe, alle Gottesdienste auch noch von größeren Ministrantengruppen verschönert wurden. Davon taten nur einige wenige am Altar selbst tatsächlich vorkonziliaren Dienst: Messbuch von rechts nach links bringen und umgekehrt, Wein und Wasser andienen, Weihrauch verbreiten, u.s.w. Die meisten führten nur liturgische „Truppen-Bewegungen“ durch, so nach der Art: mit Kerzen einziehen, mit Kerzen wieder raus, ohne Kerzen wieder rein, dann wieder raus, schließlich wieder mit Kerzen rein und so weiter und so weiter.

Heutzutage mag es ein raffiniertes System von Kameras und Bildschirmen möglich machen, den Organisten informiert zu halten. Damals gab es nichts davon, auch ein System von Spiegeln hätte die weite Distanz nicht überbrücken können. Dennoch musste der Organist wissen, wie weit die liturgischen Handlungen waren, ob vielleicht noch eine Strophe zu spielen sei oder eine Zwischenmusik doch schon zu einem Ende kommen sollte. Deshalb wurde es eingerichtet, dass ein liturgieerfahrener Schüler dazu bestimmt wurde, in der Rotunde hinten, oben auf der Galerie, über den Altaraufsatz hinweg Zeichen zu machen, was an der Orgel zu tun sei: ausgestreckte Arme = weiterspielen, Arme nach oben = abschließen. So, wie ein Polizist, wenn eine Ampel ausgefallen ist.

Der dafür Verantwortliche hatte auch vor der Heiligen Messe die Tafel mit den Liednummern zu bestücken und dann, bevor er nach oben auf die Galerie ging, diese aus der Sakristei nach vorne zu bringen und auf den Sockel der rechten Säule abzustellen. Die Tafel war groß, weil die Nummernplättchen eine entsprechende Größe haben mussten, damit sie jeder in der Kirche erkennen konnte. Sie war deshalb auch schwer, weshalb allgemein darauf geachtet wurde, dass der jeweilige Verantwortliche stark genug war, sie mit einer Hand nach vorne zu tragen und aufzustellen, ohne zu zittern oder einzelne Plättchen herausrutschen zu lassen, denn die schwere Tafel konnte die ganze Strecke von der Sakristei bis zur Säule nicht immer ganz gerade gehalten werden.

Das alles war eine wichtige, sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Etwa 1962 wurde mein Freund Rolf, ein ehemaliger Oberministrant, damit betraut. Zusammen mit unserem Freund Henning besprachen wir alle Aspekte, die mit dieser Aufgabe verbunden waren und erkannten sehr bald ein Problem: Was würde wohl passieren, wenn es dem Rolf dort oben zum Beispiel schlecht würde und er keine Zeichen mehr geben könnte; dann würde ja der Organist ewig weiterspielen, was aber wiederum für Herrn Ehret, unserem Musiklehrer und Organisten, nicht zumutbar gewesen wäre.

Als Lösung konnte nur dienen, dass Rolf einen Ersatzmann bräuchte, der ebenfalls schon von Anfang an und die ganze Zeit bei ihm oben auf der Galerie sein musste, um notfalls übernehmen zu können. P. Rektor stimmte diesem Vorschlag zu, dass Henning für diese Aufgabe der Richtige sei. Aber vorausdenkend, wie wir erzogen waren, erkannten wir, dass ja auch ihm etwas hätte passieren können. So wurde uns klar, dass die Situation nur dann befriedigend gesichert werden könnte, wenn drei Mann auf der Galerie zu Verfügung stehen würden – und der dritte Mann war von da an ich.

Problem erkannt – Gefahr gebannt.

Oben gab es in einer von unten nicht einsehbaren Ecke eine bequeme Bank, auf der man sitzen konnte, wann und solange man wollte, wo man auch leise schwätzen konnte, wenn die Predigt langweilig war. Zum Glück ist natürlich nie etwas vorgekommen, was den Einsatz des Stellvertreters oder des Stellvertreter-Stellvertreters nötig gemacht hätte. Allerdings ergab es sich einmal an einem Pfingstsonntag, dass Rolf im Chor singen und Henning überhaupt nach Hause fahren würde – aber da war ich ja da. Die Aufgabe war leicht, weil nur der Chor während der Messe singen würde, und deshalb weder eine Liedtafel aufzustellen noch der Verlauf der Liturgie zu beobachten war. Auch beim Schlusslied „Großer Gott“ waren von vornherein drei Strophen Gesang festgelegt worden, der Auszug sollte dann während des Orgelnachspiels erfolgen, dessen Dauer ebenfalls feststand. Es war also nur ein schöner, feierlicher Gottesdienst zu erwarten.

Schon am Samstag hatte mich dann jedoch einer meiner Freunde darauf angesprochen, ob seine Eltern vielleicht ausnahmsweise den Gottesdienst auf der Galerie mitfeiern dürften, da sein kriegsversehrter Vater nicht knien konnte. Zwischen den Säulen des Doms konnte er zwar sitzen, hätte aber nicht viel miterleben können. Ich war einverstanden, verwies aber an das Rektorat, um auch dort die Zustimmung einzuholen. Nachdem diese erteilt worden war, führte ich am Sonntag die Eltern auf die Galerie. Dort blieben wir drei dann allerdings weit voneinander getrennt und nachdem ich ja eigentlich gar nichts zu tun hatte, kniete, stand und saß ich halt auch nur so, wie es liturgisch für alle Gläubigen üblich war.

Schließlich ging der Festgottesdienst seinem Ende entgegen und das „Te Deum“ wurde angestimmt, das ich besonders gerne singe. Ich stellte mich dazu in der Mitte an die Balustrade, bereitete schon während des Vorspiels meine Arme aus, da der Organist ja sowieso nicht darauf zu achten hatte, und sang falsch, aber aus vollem Halse mit. – Man hätte mich ja unten während des allgemeinen Gesanges auf keinen Fall hören können.

Nach dem Ende der dritten Strophe und dem Auszug von Ministranten und Priesterschaft machten sich dann auch die Eltern meines Freundes an den Abstieg; ich räumte noch etwas weg und traf sie dann im Gewusel nach dem Hochamt auch nicht mehr wieder. Als aber dann am Abend ihr Sohn zurück in den Schlafsaal kam, schüttete er sich aus vor Lachen und erzählte, dass seine Eltern ihm davon berichtet hätten, wie tief beeindruckt sie von der inbrünstigen Frömmigkeit gewesen wären, mit der ich den Lobpreis gesungen hätte: laut, sogar mit weit geöffneten Armen, wie ein Engel.

Ein sehr freundliches Lob – aber natürlich völlig unberechtigt. Ich war – und bin – ja nicht unfromm, aber tatsächlich in punkto Frömmigkeit doch ein ganz „Kleiner“. Aber seitdem reflektiere ich immer die Orgel-Ampel, wenn gesungen wird:

„Dich, Gott Va-ater, a-auf dem Thron,
loben Gro-oße, lo-oben Kleine,
Deinem a-eingebor-hornen Sohn
singt die ha-eilige-e Gemeinde,
und sie ehrt den Heil’gen Geist,
der uns sa-einen Tro-ost erweist.“

Autor

  • Hieronymus Fürst Clary

    Hieronymus Fürst Clary, Jahrgang 1944, war 9 Jahre Internatsschüler des Kollegs. Bald nach dem Abitur 1965 studierte „Ronnie" dann Jura in München, was er mit beiden Staatsexamina abschloss. 1973 begann er eine Trainee-Ausbildung bei der Deutschen Bank in Frankfurt, wo er dann bis 1983 in der Firmenkundenbetreuung tätig war. Bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand war er anschließend Geschaftsführer einer Unternehmensberatungsgesellschaft. Er ist verheiratet, hat 4 Kinder und bisher 10 Enkel, und lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.