Die ersten Anfänge

Ein Jahr nach Ende des II. Weltkriegs eröffnete das Kolleg St. Blasien als Bildungseinrichtung wieder seine Pforte. Mit zweihundert Schülern begann der Schulbetrieb – unter abenteuerlichen Bedingungen. Bei der Vorhut war der damals 19jährige Peter Leutensdorfer mit dabei, an den sich noch viele von uns als “Leu“ erinnern.

Pater Leutenstorfer SJ – Bild: Christian Ender

Noch bevor das Kolleg am 1. Mai 1946 wiedereröffnet wurde, kam mit dem 1. April ein kleiner Trupp von Kandidaten für den Orden mit P. Adamek, unserem Lehrer auf der Rottmannshöhe am Starnberger See nach St. Blasien. Weil bei Sigmaringen eine Donaubrücke gesprengt war, dauerte die Fahrt – mit Zwischenquartier bei den Englischen Fräulein in Lindau am Bodensee zwei Tage. Von der Pritsche des Lastwagens aus, der uns von Seebrugg gebracht hatte, sahen im bodengerichteten Licht der Scheinwerfer die Säulen des Doms aus, als hätten sie nach oben kein Ende. Zum Abendessen gab es dann im einzig bewohnten Franzosenbau für die Hungrigen Röstkartoffeln – welch ein Festessen! – und dann Quartier in einem künftigen Schlafsaal.

Am nächsten Tag begann die Arbeit unter Anleitung und Organisation durch P. (eigentlich noch „Frater“) Bernhard Kranz. Dieser unser künftiger Präfekt der „Oberabteilung“ war aus dem Philosophiestudium in Pullach gekommen. Wo jetzt das Schwimmbad steht, waren baufällige Räume und – Richtung Omnibusparkplatz – ein großer Schuppen. Längs der Alb waren Garage, Werkstatt, Schreinerei und drüber ein großer Speicher. Schuppen und Speicher waren vollgestopft mit Bettgestellen, Pulten, Tischen, Stühlen und Schulbänken. Wir holten sie heraus, fuhren sie auf alten Speisesaalwagen zur Altbaupforte, wuschen den zentimeterdicken Staub ab und verteilten sie auf Schlafsäle, Klassenzimmer und Speisesäle.

Am 1. Mai 1946 begann mit etwa 200 Schülern – 50 davon waren Externe, nach baldigen Abgängen nur noch 42 – der Unterricht. Noch genügten die Klassenräume bis zum Mittelturm. Der Ostteil des Südflügels war noch aus Lazarettzeiten mit dünnen Zwischenwänden in Krankenzimmer aufgeteilt. Die Zwischenwände mussten herausgenommen, alles – wegen der Tuberkulosekranken – gründlich desinfiziert und die Räume wieder hergerichtet werden; denn nach den Sommerferien sollte der volle Schulbetrieb beginnen.

Einen Ostflügel gab es noch nicht. Vom Südflügel bis zum Franzosenbau gelangte man über den mit Gusseisensäulen gestützten, ehemaligen Maschinenraum. Der wurde zum idealen, regengeschützten Bolzplatz – gut durchlüftet, weil er zu den Sheds hin nur vergittert war. Die Sheds selber, die zu Fabrikzeiten mit „Shed“dächern gedeckt waren, galten für uns als Sportplatzersatz, bis der eigentliche Sportplatz, der „Mumm- Platz“ (benannt nach dem Spitznamen des ehemaligen Sportlehrers Ebel – in Russland gefallen), auf dem Panzer repariert worden waren, wieder bespielbar war. Der Shedplatz, Bauschutt vom abgebrannten Ostflügel, reichte auf der Höhe des jetzigen Erdgeschoßes bis zum Zaun beim Basketballplatz. Einen Partykeller gab es noch nicht. Auf dem Gang davor kam man nicht weit, weil auch dort Schutt vom Badenwerk, das noch Strom erzeugte, trennte. Wo noch Turbinen standen, befindet sich jetzt das „Atelier“.

Zum neuen Schuljahr kamen 80 Kleine hinzu, so dass die Schülerzahl auf 500 stieg. Die Einteilung der Schüler erfolgte weniger nach Zeugnissen als vielmehr nach Vorkenntnissen, die wegen der Kriegsjahre, zerstörter Schulgebäude und zum Kriegsdienst eingezogener Lehrer recht unterschiedlich waren, sodass es Vorrücken und Zurückstufungen geben musste. Nicht alle Fächer konnten schon abgedeckt werden: bei den Naturwissenschaften haperte es besonders. Die Unterrichtsstunden dauerten – vielleicht auch deshalb – 50 Minuten. Den Hauptfächern kam das zugute. Die oberste Klasse wollte P. Faller bald zu einem regulären Abitur führen. Sie sollte vor allem in den Prüfungsfächern: Deutsch, Mathematik, Latein, Griechisch, Französisch und Geschichte (antike Geschichte; denn Deutsche Geschichte war in der Französischen Zone noch verboten) ungestörten Unterricht bekommen. Er selbst war unser Latein- und Griechischlehrer. Damit wir aufs Abitur gut vorbereitet wären, gab es jeden Montag eine Latein- und am Dienstag eine Griechischarbeit. Sein Motto: „Ich treibe euch die Angst vor Klassenarbeiten schon aus!“ Es war ein Glück, dass unsere „Freie katholische Schule“ ein paar noch nicht „entnazifizierte“ Lehrer einsetzen konnte: Her Kölble (Musik) und Herr Kill (genannt „Papa Fünnöf“, Mathematik) sind von ihnen am meisten in Erinnerung geblieben.

Die Schüler wussten alle, dass wegen der kriegsbedingten Lücken viel aufzuholen war. Es wurde fleißig studiert. Heut kaum mehr vorstellbar, dass abends um 9 Uhr der Generalpräfekt P. Fank durch’s Studium gehen musste: „So Schluss mit dem Studieren; jetzt wird schlafen gegangen!“. 9 Uhr, weil früh um 6 geweckt wurde: zum lernpädagogisch sehr hilfreichen Frühstudium und zur angebotenen heiligen Messe.

Trotz der Mühen für die Schule blühte nach und nach auch die Musik wieder auf. „Scheppi“, Herr Kapellmeister Schuster, hatte bald wieder ein „Blech“ beisammen, und allmählich entstand wieder ein Orchester. Noch fehlten Kontrabass und Bratsche. Bis heute gibt es in unserem Schulorchester nur zeitweise einen Kontrabass, und mit Bratsche ist man immer willkommen. Der Chor – ein reiner Knabenchor – war mit einer Komposition von Herrn Kölble (Ecce filii tui sicut novellae olivarum in circuitu mensae tuae) zum Namenstag (18.11.46) des – vorher sehr skeptischen – Rektors P. Faller mit seiner Präzision und Klangreinheit eine gewaltige Überraschung. Bald nahm der Südwestfunk Chorlieder auf, und als einmal die Regensburger Domspatzen zu Aufnahmen erschienen, habe man ihnen gesagt: „Das haben wir von St. Blasien schon besser gehört“. Übrigens gaben damals noch Rektor und Generalpräfekt als Namenstagsgeschenk je einen Tag schulfrei!

Verglichen mit anderen Schulen waren wir bevorzugt: Es gab keine „Kohlenferien“, weil unsere Brüder Emler und Grillmeier vor die Heizkessel Holzgasöfen gebaut hatten, für die es genug, für’s Handwerk wenig brauchbares „Käferholz“ gab, sodass das Kolleg im Winter 46/47 zwar nicht warm, aber doch gut temperiert war.

Der Zweite Weltkrieg war gerade seit einem Jahr zu Ende; aber es war immer noch Notzeit: Viele trugen Klamotten, die aus Uniformen zurechtgeschneidert waren; Fußballspielen war verboten, weil das einzige Paar Schuhe, das manche nur hatten, möglichst lange halten sollte. Auch Handball wurde oft barfuß gespielt. Ab 18 – es gab auch ältere Kriegsteilnehmer unter uns, Jagdflieger…, die noch ein Abitur wollten – bekamen wir zwar Bezugsscheine für Rauchwaren; aber in unserer Französischen Zone gab es pro Nase nur 200 g Butter im Monat (!). Br. Kramer hätte in unserer Backstube (die noch existiert) gern mehr Brot gebacken, wenn er nur mehr Mehl gehabt hätte. So gab es zum Frühstück und zum Nachmittag-(Ersatz-)Kaffee eine Scheibe (trockenes) Brot. Wenn einer zwei nahm – was im Heißhunger gelegentlich vorkam – hatte ein anderer das Nachsehen. Als Pausenverpflegung gab es einen Teller Suppe, für die Hauptmahlzeiten musste Schwester Makaria oft genug zaubern: Topinambur (bis heute ein Schreckenswort für mich) statt Kartoffeln. Einmal rettete uns über 14 Tage hinweg ein Schwung irgendwo ergattertes Sauerkraut.

Unübertroffen waren in diesen Verhältnissen unsere Brüder – ohne sie hätte man das Kolleg nicht so bald eröffnen können: Mit unserem kleinen Mercedeslastwagen (mit Horch-Motor aus einem liegengebliebenen Offizierswagen) brachten sie auf Schleichwegen Äpfel aus dem Bodenseegebiet. Alles Obst war ja noch beschlagnahmt von der französischen Besatzung, und Kontrollen gab es überall. Es kam vor, dass der Wagen eine Steigung nicht schaffte, dann mussten sie das Obst kistenweise über die Anhöhe tragen und schnell wieder aufladen, damit sie noch in der Morgendämmerung zurückkämen. Für uns gab es dann am Nachmittag einen Apfel – was für ein Geschenk!

Das war der Hintergrund, als aus dem Kammerkonzert zum Tertialsabschluss (es war ja noch kein ganzes Schuljahr gewesen) am 31.7. 46 P. Faller aus der Turnhalle geholt wurde. Sie stand im jetzigen Pausenhof. Als er zurückkam, hatte die meisterhafte Musik (Herr Kölble und seine Frau) keine Chance mehr; denn P. Faller verkündete, dass vor der Küche ein Sattelschlepper des Heiligen Vaters voll mit Mehl, Fett und Zucker angekommen sei. Wen wundert es, dass Pius XII. für uns ein ganz anderes Ansehen gewann als für den Hochhut-Grantler mit seinem „Stellvertreter“! Ein halbes Jahr später, im Dezember folgte dann sogar ein Güterwagen der Bahn, sodass für das nächste Schuljahr der regelmäßige „Papstwecken“, den es sonntags nach der abendlichen Dom-Andacht gab, gesichert war.

Unter dem 1. Juli 1947 liest man im Frühjahrs-Kollegbrief von 1948: „Nach viel Schweiß der Lehrer wie auch der Oberprimaner durften die ersten 10 aus unseren Reihen zum Zentralabitur nach Freiburg hinunter, wo sie während der Prüfungstage im Studienhaus der Herz-JesuPriester gastliche Aufnahme fanden“. Was nicht im Kollegbrief steht: Wir fuhren auf dem offenen Kollegslastwagen, wurden im Friedrichsgymnasium von fremden Lehrern geprüft, und ins Zeugnis kamen nur die Noten aus dem Schriftlichen und dem Mündlichen, kein Jahresdurchschnitt. Nach dem französischen Prüfungssystem gab es maximal 20 Punkte, aber die Lehrer geizten mit Punkten; eine „Einser- Schwemme“ wie heutzutage gab es nicht. Beweis? Unser Mathematiker Volker Baumann, der später Professor für Mathematik wurde, hat statt der 3 zu wählenden Prüfungsaufgaben die ganze Auswahl (5) gewählt, hat alle richtig gelöst und bekam dennoch keine 20 Punkte, weil er ein paarmal etwas durchgestrichen hatte… Was auch nicht in der Chronik steht: Eine Lehrerin stöhnte neidisch: „St. Blasien hat Schokolade!“. P. Faller hatte unsere Verpflegung aus einigen Care- Paketen ergänzt. Wir sollen übrigens die landesbeste Abiturklasse gewesen sein.

Was es nicht gab: eine große Abiturfeier mit angereisten Eltern, ganz zu schweigen von einem Abiball. Bei der Schlussfeier am 28. Juli 1947 bekamen wir unsere Abiturzeugnisse. Ende des ersten vollständigen , erfolgreichen Schuljahres nach dem Krieg.

P. Peter Leutenstorfer SJ

Autor

  • P. Leutenstorfer SJ

    P. Leutenstorfer wurde 1928 in Gauting bei München geboren. Nach dem Krieg legte er 1947 sein Abitur im Kolleg ab und kehrte 1968 als Lehrer zurück. Nach seiner Pensionierung 1991 half er als Lehrkraft erst im St. Benno- Gymnasium in Dresden, danach im Canisius-Kolleg in Berlin. Am Loyola-Gymnasium in Prizren im Kosovo bildete er Lehrkräfte aus, bevor er 1996 ans Kolleg St. Blasien zurückgekehrte. Im November 2020 ließen seine Kräfte durch eine fortschreitende Herzschwäche mehr und mehr nach; im April 2021 zog er in die Seniorenkommunität nach Unterhaching, wo er im November 2021 verstarb. Lieber Leu, Du fehlst uns sehr. Danke für Deine Schule, Deine Freundschaft und Dein Licht! Die "Kollegsgeschichten" sind für Dich!