Politikum

Der erste Schülerstreik im Jesuitenkolleg St. Blasien ereignete sich im Mai 1970 und war ein historisches Ereignis.

Was war da los? Wie war das möglich?

Altkollegianer Ivo Gönner, der damalige Schülersprecher und Initiator dieser Revolution, erinnert sich an die Politisierung der Schülerschaft in einer sich wandelnden Gesellschaft und einem wechselvollen Jahrzehnt, den sich anbahnenden Konflikt mit der Kollegsleitung und die unausweichliche Zerreißprobe.
Der gelernte Jurist wurde anerkannter und beliebter Politiker.

Im Jahre 1962 betrat ich, ein 10-jähriger kleiner Junge, die Stadt St. Blasien, in der ein Jesuitenkolleg sich befand. Ich lernte in einer Gemeinschaft zu leben, meine individuellen Fähigkeiten langsam zu entwickeln, also mich in einer großen Gesellschaft zurechtzufinden. Meine Erinnerungen schweifen deshalb zurück an das Marschieren in Dreierreihen bei passenden und unpassenden Gelegenheiten, an Mahlzeiten in großen Sälen, fast ausschließlich unter Stillschweigen, an Schlafen und Studieren in ebenso großen Sälen. Meine Gedanken gehen zurück an Pflichtsporttage, strenge Studienzeiten, Besuch von Gottesdiensten und Andachten. Ich erinnere mich an die Filmvorführung an jedem zweiten Sonntag in der Aula, an gerechte und ungerechte Strafen, an sinnvolle und nutzlose Strafarbeiten. An mir ziehen vorüber Lehrer und weniger begabte Erzieher, Pädagogen und solche, die es waren. Kurzum, aus vielen bruchstückartigen Erinnerungen fällt mir vieles Erzählenswerte aus neunjähriger Schulzeit ein.

Ich möchte jedoch in diesem kurzen Artikel der persönlichen Erinnerung eine für die Schule, meine Freunde und mich wichtige Begebenheit aus der Erinnerung schildern, weil sie wohl am deutlichsten das Kolleg im Wandel und den Wandel im Kolleg charakterisieren kann, den ersten Schülerstreik im Mai 1970 in einem Jesuitenkolleg.

Die Vorgeschichte ist kurz erzählt: 10 Schüler der Oberstufe haben damals den formlosen Antrag gestellt, in der Stadt St. Blasien eine Gruppe der Jungsozialisten in der SPD gründen zu dürfen. Die Begründung war einfach und einleuchtend: Der Sozialkundeunterricht würde zur Farce werden, wenn man die theoretischen Kenntnisse nicht in die Praxis umsetzen könne. Die Kollegsleitung reagierte erschrocken, sie sah r o t. Das Vorhaben der Schüler wurde untersagt.

Der Antrag dieser 10 Schüler der Oberstufe war nichts besonderes, es war eine notwendige Fortsetzung der politischen Vorgänge „außerhalb der Kollegsmauern“. Jahre zuvor schon haben die Schüler begonnen, über ihre Möglichkeiten der Mitgestaltung ihres Schul- und Heimalltages nachzudenken. Sie begannen Forderungen betreffend der Reformierung von Heim und Schule zu stellen. Ein Schülerrat war gewählt worden, ein Schülerratsvorsitzender – für ein Jahr auch meine Funktion und Tätigkeit – vertrat die Interessen der Schüler gegen die Kollegsleitung, die Lehrerschaft und nicht zuletzt gegen die Eltern.

Diese zarten und vorsichtigen Emanzipationsschritte wurden im Lauf der Zeit nur schneller. Die Politisierung der Schülerschaft ging voran. Heimleitung und Teile der Eltern- und Lehrerschaft sahen sich immer stärker und oft auch immer ratloser dem Drängen der Schüler ausgesetzt. Ein Konflikt bahnte sich an und wurde zur Zerreißprobe.

Mit dem Verbot der Gründung einer Jungsozialistengruppe waren die Schüler direkt herausgefordert. Gegenmaßnahmen waren fast zwangsläufig die Folge. Nachts wurde die Druckerei „besetzt“, Flugblätter wurden gedruckt, eine Schülervollversammlung wurde einberufen, und das während der Unterrichtszeit. Der Unterrichtsstreik war da, bevor er überhaupt beschlossen war. In der Schülervollversammlung herrschte eine erregte Diskussion über die Gegenmaßnahmen seitens der Schülerschaft. Zwei Auffassungen standen sich gegenüber: Eine Gruppe von Schülern vertrat die Auffassung, daß der Unterricht für drei Stunden boykottiert werden sollte. Eine andere Gruppe von Schülern vertrat die Auffassung, daß der gesamte Unterrichtstag, also fünf Stunden lang, gestreikt werden sollte.

Das Ergebnis der Diskussion war: Nach drei Stunden sollten die Schüler in die Klasse zurück, um in den letzten beiden Schulstunden mit den Lehrern über den Vorfall zu diskutieren. Man könnte fast sagen, ein typischer jesuitischer Kompromiss.

Die Auseinandersetzung endete mit einem Sieg der Forderung der Schülerschaft, die Schüler durften Mitglied jeder politischen Partei sein. Eine baden-württembergische Tageszeitung faßte die Ereignisse, die hohe Wellen schlugen, wie folgt zusammen: „Ein Paradebeispiel demokratischer Willensbildung fochten in den letzten Wochen die Internatsschüler des Jesuiten-Kollegs St. Blasien im Hochschwarzwald aus. Gegen den Widerstand der meisten Lehrer dürfen sie nun tun, was gewöhnlich allen Bürgern der BRD dem Grundgesetz nach erlaubt ist: Sie dürfen Mitglied einer politischen Partei sein“.

Ich habe diese Geschichte aus der Erinnerung wiedergegeben, um zu unterstreichen, dass ich meiner Schulzeit in St. Blasien viel zu verdanken habe, in jeder Beziehung. Meine Individualität wurde geschärft in der jesuitischen Kollektiverziehung. Mein Geist wurde geschult in der Auseinandersetzung mit mir weit überlegenen, klugen – ja manchmal weisen – Gesprächspartnern. Den historischen Zeitraum, in dem ich das Kolleg besuchte, konnte ich mir nicht aussuchen, die Zeit selbst suchte uns auch nicht aus. Die gesellschaftlichen Vorgänge und Auseinandersetzungen waren ein Teil von uns jungen Schülern, und wir waren ein Teil dieser sich wandelnden Gesellschaft.

Foto: Abijahrgang 1971, Kollegsarchiv

Autor

  • Ivo Gönner

    Ivo Gönner (Abi 1971) besuchte das Kolleg St. Blasien von 1962-1971 und initiierte dort als Schülersprecher den ersten Schülerstreik. Der damals 17-Jährige setzte sich für die Gründung einer Juso-Gruppe am Kolleg ein. Er war von 1992 bis 2016 Oberbürgermeister in Ulm. Darüber hinaus war der Jurist langjähriger Präsident des Städtetages Baden-Württemberg.